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Title: Kein Krieg in Troja

Date of first publication: 1935

Author: Jean-Hippolyte Giraudoux (1882-1944)

Date first posted: Oct. 23, 2021

Date last updated: Oct. 23, 2021

Faded Page eBook #20211035

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KEIN KRIEG IN TROJA

 

Schauspiel in zwei Akten


PERSONEN

AndromacheHektor
HelenaUlysses
HekubaDemokos
KassandraPriamus
Der FriedeParis
IrisAjax
Dienerinnen undDer Marsgast
  TrojanerinnenDer Geometer
Die kleine PolyxenaAbneos
Troilus
Olpides
Busiris
Greise
Boten

ERSTER AKT

Terrasse auf einem Festungswall, überragt von einer zweiten Terrasse. Und von anderen Festungswällen beherrscht.

Erste Szene
Andromache, Kassandra

Andromache Der trojanische Krieg wird nicht stattfinden, Kassandra!

Kassandra Wetten wir, Andromache?

Andromache Recht hat er, dieser griechische Abgesandte. Man wird ihn willkommen heißen. Man wird ihm seine kleine Helena schön eingehüllt zurückgeben.

Kassandra Man wird ihm einen großen Empfang bereiten. Ihm Helena nicht zurückgeben. Und der trojanische Krieg wird stattfinden!

Andromache Ja, wenn Hektor nicht wäre ... Doch er naht, Kassandra. Er naht! Hörst du seine Fanfaren? ... Siegreich kehrt er soeben in die Stadt zurück. Ich denke: Der hat noch ein Wort zu sagen! Vor drei Monaten, als er auszog, schwur er mir: »Dieser Krieg ist der letzte!«

Kassandra Er ist der letzte gewesen. Der nächste steht vor der Tür.

Andromache Bist du es nicht müde, immer nur Furchtbares zu schauen, Furchtbares vorauszusehen?

Kassandra Ich sehe nichts, Andromache! Ich sehe auch nichts voraus. Ich ziehe nur die Dummheit in Betracht, die der Menschen und die der Elemente!

Andromache Warum sollte es zum Krieg kommen? Paris macht sich nichts mehr aus Helena. Und Helena macht sich nichts mehr aus Paris.

Kassandra Als ob es um diese beiden ginge!

Andromache Um wen sonst?

Kassandra Paris macht sich nichts mehr aus Helena! Helena sich nichts mehr aus Paris! Hast du je erlebt, daß sich das Schicksal an negative Redensarten kehrt?

Andromache Schicksal? Was ist das eigentlich?

Kassandra Ich will es dir sagen! Das Schicksal ist einfach die Zeit in ihrer beschleunigten Form. Es ist furchtbar!

Andromache Abstraktionen verstehe ich nicht.

Kassandra Wie du willst. So versuchen wir’s mit Metaphern. Stelle dir einen Tiger vor! Das wirst du doch können? Jedes kleine Mädchen wird diese Metapher verstehen! — Einen Tiger, der schläft.

Andromache Laß ihn schlafen.

Kassandra Nichts lieber. Es sind aber die Schlagworte, die ihn aus seinem Schlummer reißen. Von ihnen erdröhnt Troja seit einiger Zeit.

Andromache Wovon, sagst du?

Kassandra Von Phrasen, die behaupten, daß die Führung der Welt den Menschen im allgemeinen und den Trojanern und Trojanerinnen im besonderen zukommt ...

Andromache Ich verstehe dich nicht.

Kassandra Hektor, sagst du, zieht zur Stunde in Troja ein?

Andromache Ja, zur Stunde kehrt Hektor zu seiner Frau zurück.

Kassandra Diese Frau des Hektor erwartet ein Kind?

Andromache Ja. Ich erwarte ein Kind.

Kassandra Nun, sind das alles keine positiven Behauptungen?

Andromache Kassandra, du machst mir angst!

Eine junge Dienerin (geht vorüber, trägt ein Wäschebündel) Welch schöner Tag, Herrin!

Kassandra So? Findest du?

Junge Dienerin abgehend Trojas schönster Frühlingstag ist angebrochen.

Kassandra Darüber äußert sich sogar das Waschhaus positiv!

Andromache Nein, Kassandra! ... Wie kannst du an einem solchen Tag von Krieg reden? Glück senkt sich auf die Welt herab!

Kassandra Ein richtiger Schneefall.

Andromache Und Schönheit! ... Sieh nur die Sonne! Perlmutterglanz, der schimmert über Troja mehr noch als in den Tiefen des Meeres. Jede Fischerhütte, jeder Baum ist zur rauschenden Muschel gewandelt. Wenn sich je den Menschen die Möglichkeit zeigte, in Frieden zu leben ... sich zu bescheiden ... und unsterblich zu sein ... so ist es heute ...

Kassandra Ja. Die Lahmen, die man vor Trojas Tore geschleppt hat, halten sich für unsterblich.

Andromache ... und gütig zu sein ... Sieh den Reiter einer Vorhut, wie er sich vom Pferde beugt ... um das Kätzchen dort auf der Burgzinne zu streicheln ... Vielleicht ist dies heute auch der erste Tag des Friedens zwischen dem Menschen und den Tieren.

Kassandra Du sprichst zu viel. Das Schicksal ist voll Unrast, Andromache.

Andromache Ach, die ist nur in den Mädchen, die ohne Gatten sind. Ich glaube dir nicht.

Kassandra Schade ... Ah, Hektor, mit Ruhm bedeckt, kehrt zur angebeteten Gattin heim ... Er blickt auf ... Ah! Da sitzen die Mummelgreise, die sich unsterblich wähnen ... auf ihren kleinen Bänken ... Hektor reckt und streckt sich ... Ja! Heute besteht eine Aussicht, daß der Friede sich der Welt bemächtigt ... Schon gelüstet es ihn ... Und Andromache wird einen Sohn gebären! Und die Kürassiere beugen sich von ihren Pferden herab, um die Kater zu streicheln, die auf den Wällen schweifen ... Da rückt es heran, das Schicksal.

Andromache Schweig!

Kassandra Lautlos schleicht es die Stufen des Palastes hinauf. Stößt mit den Nüstern die Türen auf! ... Das ist es ... Es ist da! ...

Hektors Stimme Andromache!

Andromache Du lügst! ... Es ist Hektor!

Kassandra Wer hat dir etwas anderes gesagt?

Zweite Szene
Andromache, Kassandra, Hektor

Andromache Hektor!

Hektor Andromache! ... (Sie umarmen sich.) Auch dich grüße ich, Kassandra! ... Willst du mir Paris herholen?

So rasch wie möglich. (Kassandra zögert.) Du hast mir etwas zu sagen?

Andromache Höre nicht auf sie ... Gewiß wieder eine Katastrophe!

Hektor Sprich!

Kassandra Deine Frau erwartet ein Kind. (Sie geht ab.)

Dritte Szene
Andromache, Hektor

(Er hat sie in seine Arme genommen. Führt sie zart bis zur Steinbank. Setzt sich zu ihr. Kurzes Schweigen.)

Hektor Wird es ein Sohn sein? Eine Tochter?

Andromache Was hast du dir dabei gedacht?

Hektor Tausend Söhne ... tausend Töchter!

Andromache Warum? Hast du denn geglaubt, tausend Frauen zu umarmen? ... Du wirst enttäuscht sein. Es wird ein Sohn, ein einziger Sohn.

Hektor Zehn gegen eins, daß es ein Sohn ist ... Nach jedem Krieg kommen mehr Knaben als Mädchen auf die Welt.

Andromache Und vor einem Krieg?

Hektor Nichts mehr von Kriegen! Nichts mehr von Krieg! ... Eben ist er vorbei! Er hat dir den Vater, den Bruder genommen. Aber den Gatten zurückgebracht.

Andromache Zu gütig von ihm, wenn er sich nicht noch eines anderen besinnt.

Hektor Beruhige dich. Wir werden ihm das Handwerk legen. Gleich von dir weg will ich auf den Stadtplatz, die Pforte des Krieges schließen. Sie wird sich nie mehr öffnen.

Andromache Schließe sie nur. Aber sie wird sich öffnen.

Hektor Du kannst uns sogar den Tag nennen!

Andromache Wenn die Ähren schwer und golden stehen, die Reben unter ihrer Last sich beugen und alle Häuser Liebespaare bergen!

Hektor Und der Friede in Hochblüte steht?

Andromache Ja. Und mein Sohn ein großer, von Kraft strotzender Junge sein wird. (Hektor küßt sie.)

Hektor Dein Sohn kann ein Feigling werden. Das wäre eine Garantie.

Andromache Er wird nicht feige sein! Aber ich werde ihm den Zeigefinger der rechten Hand abschneiden.

Hektor Wenn alle Mütter ihren Söhnen den rechten Zeigefinger abschneiden, dann werden die Armeen in der ganzen Welt ohne Zeigefinger Krieg führen ... Wenn sie ihren Söhnen das rechte Bein amputieren — nun, so werden die Armeen einbeinig sein ... Und wenn sie ihnen die Augen ausstechen, dann werden die Armeen aus Blinden bestehen. Aber Armeen wird es geben, und im Handgemenge werden sie einander mit tastenden Fingern an die Kehle fahren ...

Andromache Lieber bringe ich ihn um.

Hektor Das ist die richtige mütterliche Lösung des Problems: Krieg!

Andromache Lache nicht! Ich kann ihn auch umbringen, ehe er auf die Welt kommt!

Hektor Was? Du willst ihn nicht einmal eine Minute lang betrachten, eine Minute nur? Später ... kannst du’s dir überlegen ... Aber sehen mußt du ihn doch? Sehen! Deinen Sohn!

Andromache Nur weil es dein Sohn ist, liebe ich ihn. Und weil er von dir ist, weil er du ist — zittere ich! Du ahnst nicht, wie ähnlich er dir sieht. In dem Nichts, das ihn noch birgt, besitzt er schon alles, was du in unser Zusammensein legtest. Er ist zärtlich, wie du es bist. Schweigsam wie du. Wenn du den Krieg liebst, wird er ihn lieben ... Liebst du den Krieg?

Hektor Was soll diese Frage?

Andromache Gesteh ... es gibt Tage, da du ihn liebst.

Hektor Wenn man lieben kann, was uns von Hoffnung, Glück, von den teuersten Menschen trennt ...

Andromache Du sagst es ... Man liebt ihn doch!

Hektor Wenn man sich davon verführen läßt, daß die Götter einen im Augenblick des Kampfes ein wenig ihre Rolle spielen lassen ...

Andromache Ah! Du fühlst dich als Gott im Augenblick der Schlacht?

Hektor Sehr oft weniger als ein Mensch ... Aber an manchen Morgen erhebt man sich so leicht, so neu, so verwandelt von der Erde. Der Körper, die Arme haben ein anderes Gewicht. Als wären sie aus anderen Elementen gemischt. Man ist unverwundbar. Von Zärtlichkeit durchbebt und überströmt! Es ist die Vielfältigkeit des Gefühles, wie sie nur das Schlachtfeld kennt: man ist zärtlich, weil man unbarmherzig ist. Wahrlich, so muß die Zärtlichkeit der Götter sein! Langsam geht man dem Feind entgegen. Beinahe zerstreut. Doch zärtlich. Man vermeidet, einen Käfer zu zertreten. Man verjagt die Fliege, ohne sie zu erschlagen. Niemals achtet der Mensch das Leben, das ihm so begegnet, höher ...

Andromache Jetzt aber stürmt der Feind heran? ...

Hektor Der Feind kommt heran: schäumend, furchtbar. Mitleid regt sich. Denn hinter dem Geifer und den wilden Augen erkennt man die ganze Ohnmacht und Aufopferung des armen Erdenwurms, der er ist: den armen Gatten, Schwiegersohn, Vetter, der so gerne ein gutes Gläschen trinkt und eine Schwäche für seine Oliven hat. Man liebt ihn. Liebt die Warze auf seiner Wange, sein entzündetes Augenlid. Man liebt ihn ... aber er greift unerbittlich an ... Da tötet man ihn.

Andromache Und wie ein Gott beugt man sich über den armen Leichnam. Aber man ist kein Gott, der Tote wird nicht mehr lebendig.

Hektor Sich über ihn beugen? Nein! Denn schon warten andere. Auch mit Schaum vor dem Mund und Augen, die von Haß sprühen. Andere, die Frau und Kinder haben, Oliven und ... den Frieden.

Andromache Und man tötet sie?

Hektor Man tötet sie. Es ist Krieg.

Andromache Alle tötet man?

Hektor Dieses Mal haben wir sie alle getötet. Vorsätzlich. Weil das Volk, dem sie angehörten, wirklich das Volk des Krieges war. Weil durch dieses Volk allein der Krieg Bestand hatte und in Asien sich verbreitete. Ein einziger ist entkommen.

Andromache In tausend Jahren werden alle Männer Söhne dieses einen sein ... Vergebliche Rettung. Mein Sohn wird den Krieg lieben, weil du ihn liebst.

Hektor Ich glaube eher, daß ich ihn hasse ... Da ich ihn nicht mehr liebe.

Andromache Wieso kann man aufhören zu lieben, was man angebetet hat? Sag, Hektor? Es interessiert mich.

Hektor Siehst du, es geht wie mit einem Freund, der sich als Lügner entpuppt. Von da an klingt alles falsch, was er sagt, selbst wenn er die Wahrheit spricht ... Es mag seltsam scheinen: Aber auch vom Krieg hatte ich mir Güte, Großmut versprochen, Verachtung alles Niedrigen. Meine Begeisterung, meine Lebenslust und dich ... dich selbst ... glaubte ich ihm zu verdanken ... Ja — und kein Feind bis zu diesen letzten Kämpfen, den ich nicht geliebt hätte.

Andromache Du hast es eben gesagt: Richtig Lieben und Töten gehen Hand in Hand.

Hektor Und du ahnst nicht, wie alles, was Krieg heißt, sich harmonisch zusammenschloß, um mich von seinem Edelsinn zu überzeugen. Nächtlicher Galopp der Pferde; das Geräusch wie von Seide und von Geschirr zugleich, das den schwerbewaffneten Krieger kündet, wenn er die Zeltwand streift; der Schrei des Falken, der über Soldaten kreist, die im Hinterhalt lauern. Das alles hatte bis dahin für mich so richtig geklungen. So wundervoll richtig! ...

Andromache Und diesmal — hat dir der Krieg falsch geklungen?

Hektor Warum? Ist es das Alter? Oder einfach die Müdigkeit des Berufes, die den guten Handwerker an seinem Tisch plötzlich anwandelt und die auch mich eines Morgens übermannte, im Augenblick, da ich, über einen gleichaltrigen Feind gebeugt, ihn niedermachen wollte? Früher schienen mir die Menschen, denen ich ans Leben ging, immer das Gegenteil von mir selbst zu sein. Diesmal aber kniete ich vor einem Spiegel. Im Begriff zu morden, beging ich eine Art Selbstmord! Ich weiß nicht, was in diesem Fall der Tischler macht! Ob er sein Handwerkzeug und seinen Lack wegwirft oder ob er fortfährt ... Ich fuhr fort. Aber von dieser Minute an bestand nichts mehr von jener ehemaligen Harmonie. Die Lanze, die an meinen Schild schlug, gab plötzlich einen schrillen Klang ... und auch der Aufprall des Getöteten auf dem Boden und einige Stunden später der Einsturz der Paläste ... Der Krieg übrigens hat erraten, daß ich plötzlich seinen wahren Sinn verstand. Er ließ die Maske fallen ... Die Schreie der Sterbenden klangen falsch, auch sie ... So weit ist es mit mir gekommen ...

Andromache Und für die anderen war es kein Mißklang?

Hektor Den anderen ging es wie mir. Die Armee, die ich zurückbringe, haßt den Krieg.

Andromache Eine Armee, die falsch hört.

Hektor O nein. Du machst dir keine Vorstellung, wie plötzlich — es ist kaum eine Stunde her — ihr alles wieder richtig klang beim Anblick Trojas. Kein einziges Regiment, das nicht still gestanden hätte. So daß wir nicht gewagt haben, in Massen mit dem üblichen Getrampel durch die Tore einzuziehen. In kleinen Gruppen zogen wir die Mauern entlang ... Es ist die einzig würdige Aufgabe einer Armee: die sich darbietende Heimat mit Frieden zu überziehen.

Andromache Hast du denn nicht begriffen, daß dies die ärgste Lüge war? Hektor! In Troja gebietet der Krieg. Er ist es, der euch an den Toren empfangen hat. Er ist es, der mich fassungslos in deine Arme wirft, und nicht die Liebe.

Hektor Was erzählst du da?

Andromache Weißt du denn nicht, daß Paris Helena entführt hat?

Hektor Man hat es mir eben erzählt ... Nun? Und?

Andromache ... und daß die Griechen sie zurückfordern. Daß ihr Abgesandter heute kommt? Und daß — wenn Helena nicht mit ihm ziehen darf — Krieg sein wird?

Hektor Weshalb sollte man sie nicht zurückgeben? Ich selbst werde es tun.

Andromache Niemals wird Paris einwilligen.

Hektor In wenigen Minuten wird mir Paris nachgegeben haben. Kassandra führt ihn her.

Andromache Er kann nicht nachgeben. Sein Ruhm — wie ihr Männer es nennt — zwingt ihn, nicht nachzugeben. Vielleicht auch, wie er sagt, seine Liebe.

Hektor Das werden wir ja sehen. Geh zu Priamus. Frag ihn, ob er mich gleich vorlassen kann. Und ängstige dich nicht. Alle Trojaner, die Kriege geführt haben und Krieg führen können, wollen ihn nicht.

Andromache Aber die anderen?

Kassandra Hier ist Paris.

(Andromache geht ab.)

Vierte Szene
Kassandra, Hektor, Paris

Hektor Meine Glückwünsche, Paris. Du hast ja die Zeit unserer Abwesenheit vortrefflich genützt.

Paris Nicht übel. Danke.

Hektor Was für eine Geschichte mit Helena ist das also?

Paris Helena ist sehr nett. Nicht wahr, Kassandra?

Kassandra Recht nett.

Paris Recht nett? Warum bist du heute so kühl? Gestern noch hast du gesagt, daß sie sehr hübsch ist.

Kassandra Sie ist sehr hübsch und recht nett.

Paris Gleicht sie nicht einer anmutigen kleinen Gazelle?

Kassandra Nein.

Paris Du selbst hast mir gesagt, daß sie einer Gazelle gleicht.

Kassandra Ich habe mich geirrt. Inzwischen habe ich nämlich eine Gazelle gesehen.

Hektor Ihr langweilt mich mit euren Gazellen ... Gleicht sie denn so wenig einer Frau?

Paris Oh! Der hiesige Frauentyp ist sie freilich nicht.

Kassandra Welches ist der hiesige Frauentyp?

Paris Der deine, liebe Schwester. Ein Typ mit schrecklich wenig Distanz.

Kassandra Hält deine Griechin Distanz in der Liebe?

Paris Höre unsere Jungfrauen darüber! ... Du weißt genau, was ich meine. Ich habe genug von den asiatischen Frauen. Ihre Umarmungen kleben; ihre Küsse sind Einbrüche, ihre Worte ebensoviele Schluckbewegungen, um uns zu verschlingen. Wenn sie sich entkleiden, ist es, als ob sie ein Gewand anlegten, das noch überladener ist als alle anderen: nämlich ihre Nacktheit; und ihre Schminke scheint nur da zu sein, damit sie auf uns abfärbt — und sie tut es auch ... Kurz und gut: man ist ihnen entsetzlich nahe ... Helena aber — auch in meinen Armen ist Helena weit von mir!

Hektor Sehr interessant! Aber glaubst du, daß es sich lohnt, einen Krieg zu führen, damit Paris auf Distanz seine Liebesspiele treibt?

Kassandra Auf Distanz? Paris liebt unnahbare Frauen, aber so nah wie möglich.

Paris Helenas Ferne, wenn sie gegenwärtig ist, wiegt alles auf.

Hektor Wie war die Entführung? Willig? Oder mit Gewalt?

Paris Aber Hektor! Du kennst doch die Frauen ebenso gut wie ich. Sie willigen nur ein, wenn man Gewalt braucht. Aber dann mit Begeisterung.

Hektor Geschah es zu Pferd? Und unter Zurücklassung von Pferdemist vor ihren Fenstern? Du weißt, das ist das Kennzeichen der Verführer.

Paris Soll das ein Verhör sein?

Hektor Es ist ein Verhör. Versuche doch einmal, präzise Antworten zu geben. Du hast also weder dem ehelichen Bett noch der griechischen Erde Schimpf angetan?

Paris Nein. Ein wenig allerdings dem griechischen Meer Sie war im Begriffe zu baden ...

Kassandra Dem Schaum entstiegen also? Ihre Kälte ist aus dem Schaum geboren, wie Venus.

Hektor Du hast die Säulen des Palastes nicht mit beleidigenden Inschriften und Zeichnungen bedeckt, wie es deine Art ist? Du hast nicht als erster dem Echo ein Wort zugerufen, das nunmehr dem betrogenen Gatten von überallher in die Ohren klingt?

Paris Nein. Menelaus stand nackt am Ufer. Er war damit beschäftigt, seine große Zehe von einer Krabbe zu befreien. Er hat meinem Boot nachgeblickt, als ob der Wind ihm seine Gewänder entführte.

Hektor Mit wütender Miene?

Paris Die Miene eines Königs, den eine Krabbe zwickt, ist nie freudestrahlend gewesen.

Hektor Andere Zuschauer gab es keine?

Paris Meine Matrosen.

Hektor Vortrefflich!

Paris Warum vortrefflich? Was willst du damit sagen?

Hektor Ich sage: vortrefflich, weil du nichts verübt hast, was nicht gutzumachen wäre. Da sie unbekleidet war, ist an keinem einzigen ihrer Gewänder noch ihrer Sachen gefrevelt worden. Nur an ihrem Körper. Das ist Nebensache. Ich kenne die Griechen. Aus dem Unfall dieser kleinen griechischen Königin werden sie ein für sie höchst ehrenvolles göttliches Abenteuer machen. Das Meer hat sie ein bißchen verschluckt, und nach einigen Monaten taucht sie wieder auf, mit dem unschuldigsten Gesicht.

Kassandra Für das Gesicht garantieren wir.

Paris Was? Du glaubst, daß ich Helena Menelaus zurückbringen werde?

Hektor So viel verlangen wir nicht einmal von dir. Und er auch nicht ... Das besorgt schon der griechische Abgesandte ... Wo sie abhanden gekommen ist, genau an diese Stelle wird er sie wieder hinverpflanzen, wie ein Gärtner seine Wasserpflanzen. Heute abend wirst du Helena dem Gesandten übergeben.

Paris Du scheinst dir von der Ungeheuerlichkeit, die du verlangst, keine Rechenschaft zu geben! Wie? Ein Mann, der einer Nacht mit Helena entgegensieht, sollte darauf verzichten?

Kassandra Es bleibt dir noch ein Nachmittag mit Helena. Sehr griechisch!

Hektor Du wirst nachgeben. Wir kennen dich. Es ist nicht die erste Trennung, die du hinnimmst.

Paris Du hast recht, lieber Hektor! Bisher habe ich eher frohen Herzens in jede Trennung gewilligt. Die Trennung von einer Frau — und wäre es auch die geliebteste — hat ihre angenehmen Seiten, die niemand besser zu schätzen weiß als ich. Der erste Spaziergang durch die Straßen nach der letzten Umarmung, der Anblick des herzigen rosigen Gesichtchens einer kleinen Näherin, nachdem eben die angebetete Geliebte mit einer vom Weinen geröteten Nase schied; das helle Lachen der Wäscherin oder der Blumenhändlerin, nach den vom Trennungsschmerz heiseren Abschiedsworten — bereiten eine Genugtuung, für die ich gern alle anderen hingebe. Man hat ein einziges Wesen verloren. Und gleich ist diese Leere mächtig bevölkert. Alles ist neu erschaffen; alles gehört mir. Und dies — in aller Freiheit, in aller Reinheit, in allem Frieden des Gewissens! ... Ja, du hast recht. Die Liebe enthält wirklich wunderbare Höhepunkte: nämlich wenn es zum Bruch kommt ... So werde ich mich niemals von Helena trennen, denn wenn ich bei ihr bin, ist es mir, als hätte ich mit allen anderen Frauen der Welt gebrochen. Und als würden mir tausend Freiheiten und tausend erlesene Freuden statt einer einzigen zuteil.

Hektor Weil dich Helena nicht liebt. Jedes deiner Worte beweist es.

Paris Möglich. Aber allen Leidenschaften ziehe ich Helenas Art und Weise vor, mich nicht zu lieben.

Hektor Ich bedaure sehr. Aber du wirst Helena zurückgeben.

Paris Du hast hier nicht zu befehlen.

Hektor Ich bin dein älterer Bruder. Und der zukünftige Herr!

Paris Dann befiehl in der Zukunft. Gegenwärtig folge ich dem Gebot meines Vaters!

Hektor Mehr fordere ich nicht. Bist du einverstanden, daß wir uns dem Urteil des Priamus unterwerfen?

Paris Vollkommen einverstanden.

Hektor Du schwörst? Wir schwören?

Kassandra Vorsicht, Hektor! Priamus ist vernarrt in Helena. Eher würde er seine Tochter ausliefern.

Hektor Was erzählst du da?

Paris Die Wahrheit! Weil sie endlich einmal die Gegenwart und nicht die Zukunft verkündet.

Kassandra Und alle unsere Brüder und alle unsere Onkel und alle unsere Urgroßonkel ... Helena besitzt eine Ehrengarde, in der alle Mummelgreise beisammen sind. Sieh hin. Es ist die Stunde ihres Spaziergangs ... Siehst du dort auf den Zinnen die vielen weißen Bärte? ... Wie Störche, die auf den Festungswällen herumstolzieren.

Hektor Ein schöner Anblick: weiße Bärte! Rote Gesichter!

Kassandra Kongestionen ... jawohl! Sie hätten doch an dem Tor des Skamander zu stehen, durch das unsere siegreichen Truppen einziehen. Aber nein! Sie harren an dem Tore, durch das Helena schreiten wird.

Hektor Jetzt bücken sie sich wie Störche, wenn eine Ratte vorüberflitzt!

Kassandra Es ist Helena, die vorübergeht ...

Paris Ah, ja?

Kassandra Sie steht auf der zweiten Terrasse. Sie bindet ihre Sandale fest. Und achtet wohl dabei, ihr Bein recht hoch zu heben.

Hektor Unerhört! Trojas Greise drängen sich, um sie von dort oben anzuschauen.

Kassandra Nein. Die Schlauesten schauen von unten.

Rufe hinter der Kulisse Es lebe die Schönheit!

Hektor Was rufen sie?

Paris Es lebe die Schönheit!

Kassandra Ich teile ihren Wunsch: sie sollen rasch sterben.

Rufe hinter der Kulisse Es lebe Venus! ...

Hektor Und jetzt?

Kassandra Es lebe Venus ... Sie wählen nur Sätze ohne »R«. Weil sie keine Zähne mehr haben ... Es lebe die Schönheit ... Es lebe Venus ... Es lebe Helena! ... Sie bilden sich ein, stolze Rufe auszustoßen. Aber es ist nur der höchste Grad von senilem Nuscheln.

Hektor Was hat Venus damit zu tun?

Kassandra Sie bilden sich ein, daß Venus es ist, die uns Helena geschenkt hat! Um Paris dafür zu belohnen, daß er ihr auf den ersten Blick den Apfel darbot.

Hektor Das war auch ein schöner Streich von dir!

Paris Immerzu mußt du den Erstgeborenen spielen.

Fünfte Szene
Dieselben, zwei Greise

Erster Greis Von unten — sehen wir sie besser ...

Zweiter Greis Wir haben sie sogar sehr ausführlich gesehen!

Erster Greis Aber von hier oben hört sie uns besser ... Vorwärts: Eins, zwei, drei!

Beide Es lebe Helena!

Zweiter Greis Es ist recht ermüdend in unserem Alter, immerfort diese schrecklichen Stiegen hinauf- und hinunterzugehen. Je nachdem, ob wir sie sehen oder ob wir ihr zujauchzen wollen.

Erster Greis Wollen wir einander ablösen? Einen Tag werden wie sie hochleben lassen. Und einen Tag uns an ihrem Anblick weiden.

Zweiter Greis Bist du bei Sinnen? Einen ganzen Tag — ohne Helena richtig in Augenschein zu nehmen ... Bedenke, was wir heute alles von ihr gesehen haben. Eins, zwei, drei!

Beide Es lebe Helena!

Erster Greis Und jetzt hinunter. (Sie verschwinden im Laufschritt.)

Kassandra Was sagst du dazu, Hektor? Ich frage mich, wie alle diese ausgepumpten Lungen das aushalten werden?

Hektor Unser Vater kann nicht so sein.

Paris Höre, Hektor. Ehe wir vor Priamus hintreten, könntest du vielleicht einen Blick auf Helena werfen.

Hektor Was schert mich Helena! ... Oh ... Vater ... Sei gegrüßt!

(Priamus tritt auf. Begleitet von Hekuba, von dem Dichter Demokos und einem Greis. Hekuba führt die kleine Polyxena an der Hand.)

Sechste Szene
Hekuba, Priamus, Andromache, Kassandra, Hektor, Paris, Demokos, der Geometer, die kleine Polyxena

Priamus Was hast du mir zu sagen?

Hektor Ich sage, Vater, daß wir in aller Eile die Pforte des Krieges schließen, sie verriegeln, sie verrammeln müssen. Keine Mücke soll zwischen den beiden Torflügeln hindurchschlüpfen können!

Priamus Du schienst dich vorhin kürzer zu fassen.

Demokos Er hat gesagt, daß er sich nicht um Helena schert.

Priamus Blick hinab ... (Hektor folgt dem Befehl.) Siehst du sie?

Hekuba Jawohl. Er sieht sie! Ich frage mich, wer sie übersehen könnte und wer sie noch nicht gesehen hat. Sie macht ihren Rundgang.

Demokos Den Rundgang der Schönheit.

Priamus Siehst du sie?

Hektor Nun ja ... Was dann?

Demokos Priamus fragt dich, was du gesehen hast.

Hektor Eine junge Frau, die ihre Sandale fester bindet.

Kassandra Etwas lange braucht sie dazu.

Paris Ich habe sie nackt und ohne Garderobe entführt. Die Sandalen sind von dir. Deshalb sind sie etwas zu groß.

Kassandra Frauen von kleinem Wuchs ist leicht alles zu groß.

Hektor Ich sehe zwei reizende Schenkel.

Hekuba Er sieht, was ihr alle seht.

Priamus Du armes Kind!

Hektor Wie?

Demokos Priamus sagt: »Du armes Kind.«

Priamus Ja. Ich wußte nicht, daß es mit Trojas Jugend so weit gekommen ist.

Hektor Wie weit denn?

Priamus So weit, daß sie der Schönheit gegenüber blind ist!

Demokos Und infolgedessen auch von Liebe nichts weiß. Sie sind Realisten geworden. Wir Dichter nennen das: Realismus!

Hektor Bleiben also nur noch die trojanischen Greise als Experten in Dingen der Schönheit und der Liebe?

Hekuba Natürlich. Denn wer noch die Kraft hat zu lieben oder wer die Schönheit hat, dem obliegt es nicht zu erläutern, was Liebe und Schönheit ist.

Hektor Schönheit ist nicht so selten, Vater. Ich will nichts gegen Helena sagen. Aber Schönheit ist eine alltägliche Sache.

Priamus Das glaubst du selbst nicht, Hektor. Du wirst beim Anblick einer Frau doch schon gefühlt haben, daß sie nicht nur sie selbst war, sondern daß eine ganze Flut von Gedanken und Gefühlen sich in ihren Leib ergossen hat, der nun von ihrem Glanze überströmt.

Demokos So ist der Rubin die strahlende Gestalt des Blutes.

Hektor Nicht für solche, die Blut gesehen haben. Davon verstehe ich etwas.

Demokos Ich meine es symbolisch. Du bist zwar ein Krieger, doch hast du gewiß schon von Symbolen sprechen gehört und bist Frauen begegnet, welche dir auf den ersten Blick die Intelligenz, die Harmonie, die Sanftmut zu verkörpern schienen?

Hektor Ich bin solchen Frauen begegnet.

Demokos Was hast du dann getan?

Hektor Ich trat ihnen näher, und es war zu Ende ... Was soll diese da verkörpern?

Demokos Das hast du doch gehört: die Schönheit.

Hekuba Dann gebt sie rasch den Griechen zurück, wenn ihr wollt, daß sie die Schönheit noch lange verkörpert. Sie ist nämlich eine Blondine. Die halten sich nicht lang.

Demokos Unmöglich, mit Frauen vernünftig zu sprechen!

Hekuba Dann sprecht nicht von Frauen! Jedenfalls seid ihr weder galant noch patriotisch. Jedes Volk erhebt die Frau zum Symbol seiner Wesensart. Selbst wenn ihre Nase platt und ihre Lippen wulstig sind. Ihr seid die einzigen, die ihr Symbol anderswo suchen.

Hektor Vater, meine Kameraden und ich kehren erschöpft zurück. Wir haben unsern Kontinent auf immer befriedet. Jetzt aber wollen wir endlich glücklich leben. Wir verlangen, daß uns unsere Frauen lieben können, ohne ewig zu bangen. Und daß sie ihre Kinder haben können.

Demokos Weise Forderungen. Aber der Krieg hat Frauen nie gehindert, niederzukommen.

Hektor Sag mir, warum wir Troja auf den Kopf gestellt sehen, nur weil Helena darin weilt? Sag mir, was für Vorteile sie uns beschert, die einen Streit mit den Griechen wert sein könnten.

Der Geometer Die ganze Welt kann dir darauf Antwort geben! ... Ich auch!

Hekuba Jetzt mischt sich auch der Geometer ein.

Der Geometer Jawohl! Und ich glaube, daß auch Geometer sich mit Frauen zu befassen haben. Sie haben auch eure Erscheinung zu bemessen. Ich will gar nicht näher darauf eingehen, wie sehr ein Geometer durch zu dicke Schenkel oder durch Fettwülste an einem Frauenhals leiden kann ... Nun denn: Die Geometer waren bis vor kurzem von Trojas Umgebung wenig erbaut. Dort, wo sich Ebene und Hügel aneinanderschließen, fehlte es den Linien an Schwung. Dort, wo Hügel sich an Berge lehnen, war die Linie wie aus Draht. Aber seitdem Helena hier ist, hat die Landschaft ihren Sinn, ihre Form erhalten. Und — ein Vorzug, für den wir Geometer besonders empfänglich sind — Fläche und Volumen besitzen nur mehr ein gemeinsames Maß: Helena! Dadurch sind alle Instrumente, die Menschen erfunden haben, um das Weltall zu verkleinern, zunichte geworden. Es gibt kein Meter mehr, kein Gramm, keine Meile. Es gibt nur mehr den Schritt Helenas, die Elle Helenas, die Tragweite des Blickes und der Stimme Helenas, und der leise Luftzug, den ihr Schreiten verursacht, ist das Maß der Winde. Sie ist unser Barometer, unser Anemometer. Das ist es, was dir die Geometer sagen.

Hekuba Er weint, der Idiot!

Priamus Mein lieber Sohn, sieh nur die Menge um dich her, und du wirst erfassen, was Helena ist! Sie ist eine Art von Absolution. Sie beweist all diesen Greisen, die sie umlauern und die ihre weißen Haare auf den Zinnen der Stadt flattern lassen — dem Räuber, dem Mädchenhändler, dem Entgleisten, der sein Leben verpfuschte —, daß sie alle im geheimsten ihrer Herzen zu einer Forderung berechtigt waren: es ist die Schönheit! Wenn Schönheit ihnen immer so nahe gewesen wäre, wie es Helena heute ist, dann hätten sie ihre Freunde nicht bestohlen, ihre Töchter nicht verschachert, ihr Erbe nicht versoffen. Helena bedeutet ihnen: ihre Gnade, ihre Vergeltung und ihre Zukunft!

Hektor Die Zukunft von Greisen ist mir gleichgültig.

Demokos Hektor, ich bin ein Dichter, und mein Urteil ist das Urteil eines Dichters. Stelle dir einmal vor, unser Wortschatz wäre zu arm, um der Schönheit eine Unterkunft zu bieten. Nimm an, das Wort »Wonne« gäbe es nicht!

Hektor Dann würden wir darauf verzichten. Für meinen Teil habe ich es längst getan. Ich gebrauche das Wort »Wonne« nur, wenn ich gar nicht anders kann.

Demokos Wahrscheinlich würdest du auch auf das Wort »Wollust« verzichten?

Hektor Wenn dieses Wort nur um den Preis eines Krieges zu haben wäre — ja!

Demokos Das schönste Wort, das Wort »Mut«, hast du um den Preis des Krieges erkauft.

Hektor Es war ein hoher Preis.

Hekuba Bei dieser Gelegenheit ist offenbar auch das Wort »Feigheit« entstanden.

Priamus Mein Sohn! Warum tust du dir Gewalt an, um uns nicht zu verstehen?

Hektor Ich verstehe euch sehr gut. Durch Verdrehung und Verfälschung der Wahrheit — unter dem Vorwand, daß wir uns für die »Schönheit« schlagen, wollt ihr, daß wir es einer Frau wegen tun.

Priamus Und für gar keine Frau würdest du in den Krieg ziehen?

Hektor Gewiß nicht!

Hekuba Und wie recht er hätte!

Kassandra Vielleicht wenn es eine einzige Frau auf der Welt gäbe. Aber die Ziffer ist weit überschritten.

Demokos Um dir Andromache zurückzugewinnen, würdest du nicht Krieg führen?

Hektor Andromache und ich haben bereits geheime Vorsorge getroffen, um jedem Gefängnis zu entfliehen und uns wieder zu vereinigen.

Demokos Um euch zu vereinigen, wenn alle Hoffnung verloren ist?

Andromache Auch dann.

Hekuba Bravo, Hektor! Du reißt ihnen die Maske herunter. Sie wollen einer Frau wegen Krieg führen. Das ist die Art, wie Impotente lieben!

Demokos Man erweist euch große Ehre.

Hekuba Ha! Schöne Ehre!

Demokos Gestatte, daß ich dir widerspreche: Das Geschlecht, dem meine Mutter angehört, werde ich hochhalten. Selbst wenn es sich um Frauen niederster Sorte handelt.

Hekuba Das wissen wir. Die hast du oft hochgehalten ...

(Die Dienerinnen, die bei dem lauten Disput zusammengelaufen sind, lachen auf.)

Priamus Hekuba, Töchter! Was soll diese Auflehnung heißen? Der hohe Rat stellt sich die Frage, ob er für eine von euch das Reich gefährden soll — und ihr fühlt euch beleidigt?

Andromache Es gibt nur eine einzige Erniedrigung für die Frau: die Ungerechtigkeit!

Demokos Wie peinlich, konstatieren zu müssen, daß die Frauen am allerwenigsten wissen, was eine Frau ist!

Eine junge Dienerin (die vorübergeht) Herrjeh! Herrjeh!

Hekuba Sie wissen es genau. Und ich, ich werde euch sagen, was die Frau ist.

Demokos Priamus, entziehe ihnen das Wort. Man weiß nie, was eine zu sagen imstande ist!

Hekuba Jawohl. Sie sind imstande, die Wahrheit zu sagen!

Priamus Meine Lieben! Ich brauche nur an eine von euch zu denken, um zu wissen, was eine Frau ist.

Demokos Erstens: Sie ist das Prinzip unserer Energie. Das weißt auch du, Hektor. Der Krieger, der in seiner Tasche kein Frauenbildnis trägt, ist nichts wert.

Kassandra Sie ist die Triebfeder eures Hochmuts, jawohl!

Hekuba Und eurer Laster.

Andromache Ein armes Agglomerat von Unsicherheit, ein Häuflein Angst! Dem alles zuwider ist, was schwer, dem wert und lieb, was leicht eingeht und gewöhnlich ist.

Hektor Liebe Andromache!

Hekuba Sehr einfach: seit fünfzig Jahren bin ich eine Frau, aber es ist mir noch nicht gelungen, ganz genau zu wissen, was ich eigentlich bin.

Demokos Zweitens: Ob sie es will oder nicht, die Frau ist der einzige ernsthafte Preis für den Mut ... Fragt nur den einfachsten Soldaten. Einen Mann töten, heißt, sich eine Frau verdienen.

Andromache Sie liebt die Feigen, die Liederlichen. Wäre Hektor feig oder liederlich, ich würde ihn lieben ... ebensosehr lieben ... vielleicht sogar mehr ...

Priamus Andromache, übertreibe nicht. Du läufst Gefahr, das Gegenteil von dem zu beweisen, was du beweisen willst.

Polyxena Und naschhaft ist sie. Und lügen tut sie.

Demokos Und von dem, was im menschlichen Leben die Treue der Frau, ihre Reinheit bedeutet, davon wird nicht gesprochen, nicht wahr?

Junge Dienerin O je! O je!

Demokos Was soll das heißen?

Dienerin Ich sag: O je! O je! Ich sag, was ich mir denke!

Polyxena Sie zerbricht ihre Puppen. Sie steckt ihre Köpfe ins kochende Wasser.

Hekuba Je mehr wir Frauen altern, desto klarer erkennen wir, was Männer sind. Heuchler, Aufschneider, Böcke! Je mehr die Männer altern, desto beflissener behängen sie uns mit allen Tugenden. Jede Hure, die an einer Straßenecke steht, wird in eurer Erinnerung ein Geschöpf reiner Liebe.

Priamus Hast du mich betrogen, Hekuba?

Hekuba Nur mit dir. Aber hundertmal!

Demokos Hat Andromache Hektor betrogen?

Hektor Laß doch Andromache in Ruhe! Mit diesen Weibergeschichten hat sie nichts zu schaffen.

Andromache Wenn Hektor nicht mein Mann wäre, so würde ich ihn mit ihm selbst betrügen. Wenn er ein armer, krummbeiniger Fischer wäre, bis in seine Hütte würde ich ihn verfolgen. Um mich auf einem Lager von Austernschalen und von Seegras auszustrecken. Und um von ihm einen Bastard zu empfangen.

Polyxena Die ganze Nacht schläft sie nicht. Zufleiß. Liegt nur still mit geschlossenen Augen.

Hekuba (zu Polyxena) Was hast du dreinzureden! Unerhört! Schweig!

Dienerin Ein Mann! Etwas Ärgeres gibt es nicht als den!

Demokos Mag uns die Frau betrügen! Mag sie ihre Würde, ihren Wert nicht achten. Da sie nicht fähig ist, das Ideal hochzuhalten, das ihr Kraft gibt und ihre Seele vor Runzeln bewahrt, so ist es an uns, dies zu tun.

Dienerin: Ach, die schönen Leisten!

Paris Nur eins vergessen sie, zu sagen, daß sie nicht eifersüchtig sind.

Priamus Liebe Töchter! Gerade eure Empörung beweist mir, daß wir recht haben. Gibt es höhere Großmut als diese, die euch jetzt treibt, für den Frieden zu streiten? Für einen Frieden, der euch schlaffe, faule, verlogene Gatten geben wird. Während der Krieg Männer aus ihnen macht! ...

Demokos Helden!

Hekuba Das Wörterbuch kennen wir auswendig. In Kriegszeiten heißt der Mann: Held! Auch wenn er gar nicht mutig ist und schnellstens ausreißt. Dann bleibt er doch ein Held, ein Held, der das Hasenpanier ergreift.

Andromache Vater, ich beschwöre Sie, wenn Sie so viel Freundschaft für uns Frauen fühlen, so hören Sie, was alle Frauen der Welt Ihnen durch meinen Mund verkünden. Laßt uns unsere Gatten hier, so wie sie sind. Die Götter sorgen schon dafür, daß sie ihren Scharfsinn, ihre Behendigkeit üben müssen. Die Elemente! Die Tiere! Solange es Wölfe, Elefanten und Leoparden gibt, wird der Mensch einen gefährlicheren Feind besitzen als den Menschen. Die großen Raubvögel, die uns umkreisen, die Hasen, deren Fell wir Frauen nicht vom Heidekraut unterscheiden können — sie sind eine bessere Gewähr für die scharfen Augen unserer Gatten als die Zielscheibe, die ihnen das Herz des gepanzerten Feindes bietet. Jedesmal, wenn ich einen Hirschen oder einen Adler erlegen sah, wußte ich ihm Dank. Denn er starb für Hektor. Warum soll ich Hektors Leben anderen Männern verdanken?

Priamus Das will ich ja gar nicht, mein Liebling. Aber wißt ihr, warum ihr so schöne, so mutige Frauen seid? Weil eure Gatten, eure Väter und eure Ahnen Krieger waren. Wenn sie ihr Handwerk lässig betrieben hätten; wenn sie nicht erkannt hätten, daß eine so öde und blöde Beschäftigung wie das Leben plötzlich Berechtigung findet und durch die Verachtung, welche die Männer für sie empfinden, sich verklärt, dann würdet ihr feig sein und den Krieg fordern. Es gibt nur einen Weg, sich hienieden unsterblich zu fühlen: zu vergessen, daß man sterblich ist ...

Andromache Aber Sie wissen doch, Vater, daß es die Mutigen sind, die im Kriege fallen. Um nicht zu fallen, muß man entweder viel Glück haben oder äußerst schlau sein. Man muß wenigstens einmal vor der Gefahr den Kopf gebeugt haben oder einmal demütig in die Knie vor ihr gesunken sein. Die Soldaten, die durch Triumphbögen defilieren, das sind die, die vor dem Tod desertiert sind. Wieso kann ein Land an Ehre und Kraft gewinnen, wenn es beide einbüßt?

Priamus Tochter, die erste feige Handlung ist die erste Runzel auf dem Antlitz eines Volkes.

Andromache Was aber ist die ärgere Feigheit? Dem anderen gegenüber feig zu erscheinen und den Frieden zu sichern? Oder feig gegen sich selbst zu sein und den Krieg heraufzubeschwören?

Demokos Feig nenne ich es, wenn man nicht den Tod für das Vaterland jeder anderen Todesart vorzieht.

Hekuba Auf diese poetische Floskel habe ich gewartet. Die läßt sich der Dichter nicht entgehen!

Andromache Man stirbt immer für sein Vaterland. Würdig, tätig, weise sein Dasein verbringen, heißt auch für sein Vaterland sterben. Die Gefallenen ruhen nicht friedlich unter der Erde, Priamus. Sie gehen nicht in ihr auf. Sie werden nicht zur Scholle, nicht zu ihren Säften. Sooft man unter der Erde auf ein menschliches Skelett stößt, immer liegt ein Schwert daneben. Es ist ein Knochen der Erde, ein unfruchtbarer Knochen. Es ist ein Krieger!

Hekuba Oder dann sollen nur die Greise Krieger sein. Jedes Land ist das Land der Jugend. Es stirbt, wenn seine Jugend stirbt.

Demokos Laßt uns in Ruhe mit eurer Jugend. In dreißig Jahren wird sie das Alter sein.

Kassandra Da irrst du dich.

Hekuba Wieso? Wenn der Mann vierzig Jahre alt wird, räumt er dem Greise in sich Platz ein. Er selbst verschwindet. Nur äußerlich ähneln sich die beiden noch. Aber sie haben nichts mehr miteinander gemein.

Demokos Das Streben nach Ruhm hat mich nicht verlassen, Hekuba.

Hekuba Gewiß nicht. So wenig wie der Rheumatismus ...

(Neuerliches Gelächter der Dienerinnen.)

Hektor Und du hörst das alles an, Paris, ohne nur ein Wort zu sagen? Und es fällt dir nicht ein, ein Liebesabenteuer zu opfern, um uns Jahre des Haders und Gemetzels zu ersparen?

Paris Was soll ich dazu sagen? Mein Fall ist international.

Hektor Liebst du Helena wirklich?

Kassandra Sie sind beide bereits zum Symbol der Liebe geworden. Sie brauchen sich gar nicht mehr zu lieben.

Paris Ich bete Helena an!

Kassandra (von dem Festungswall herabblickend) Da kommt Helena!

Hektor Falls ich Helena überrede, sich einzuschiffen, willigst du dann ein?

Paris Ja, ich willige ein.

Hektor Vater, werden Sie Helena mit Gewalt zurückhalten, wenn sie sich bereit erklärt, nach Griechenland zurückzukehren?

Priamus Wozu Unmögliches in Betracht ziehen?

Hekuba Unmöglich? Warum? Wenn die Frauen wirklich so sind wie ihr sagt — ja, wenn nur ein Viertel davon wahr ist — so wird Helena von selbst Troja verlassen.

Paris Vater! Ich bin es, der Euch nun bittet! Ihr seht, Ihr hört sie alle. Sooft es sich um Helena handelt, wird die königliche Familie zu einem Klan von Schwiegermüttern, Schwägerinnen, Schwiegervätern; würdig, der philiströsesten Bourgeoisie anzugehören. Wirklich, es gibt keine demütigendere Beschäftigung für den Sohn einer zahlreichen Familie, als die Rolle des Verführers zu spielen. Ich bin ihrer Anzüglichkeiten müde. Ich lasse Hektors Herausforderung gelten.

Demokos Helena gehört nicht dir allein, Paris! Sie gehört der Stadt. Sie gehört dem Land.

Der Geometer Sie gehört der Landschaft!

Hekuba Du, Geometer, schweig!

Kassandra Helena naht! ...

Hektor Vater, ich verlange es von Euch! Verwehrt mir nicht diesen Ausweg. Man ruft uns zur Feier. Geht voran ... Ich folge.

Priamus Wirklich, Paris? Du willigst ein?

Paris Ich beschwöre Euch.

Priamus Es sei! Meine Kinder ... gehen wir, bereiten wir uns vor, die Pforte des Krieges feierlich zu schließen.

Kassandra Arme Pforte! Man braucht mehr Öl, um sie zu schließen, als um sie zu öffnen.

(Priamus und sein Gefolge entfernen sich. Nur Demokos bleibt bei Hektor zurück.)

Hektor Worauf wartest du noch?

Demokos Auf meinen Anfall!

Hektor Anfall?

Demokos Jedesmal, wenn Helena erscheint, entflammt sich mein Geist! Ich phantasiere, ich tobe, und plötzlich improvisiere ich! Himmel, da ist sie! (Er deklamiert.)

Schöne Helena, Helena von Sparta!

Deren Busen sich rundet so zart!

Deren Antlitz so edel strahlt,

Bewahren uns die Götter, daß du entschwändest!

Und zu Menelaus wiederfändest!

Hektor Hör doch auf. Hämmere uns deine Reime nicht wie krumme Nägel in den Kopf.

Demokos Oh! Es wird noch viel erstaunlicher. Du mußt es anhören.

Tritt, Helena, furchtlos hin vor Hektor,

Unsern Ruhm und Schrecken Skamanders.

Du hast immer recht, in deinem Sektor,

Du bist zärtlich und er leidet anders.

Hektor Fort mit dir!

Demokos Warum blickst du mich so zornig an? Du scheinst die Dichtkunst ebenso zu hassen wie den Krieg?

Hektor Sie sind Schwestern ... Geh! (Demokos ab.)

Kassandra (tritt ein, meldet) Helena!

Siebente Szene
Helena, Paris, Hektor

Paris Geliebte Helena! Das ist Hektor! Er hat einiges mit dir vor! Pläne ganz einfacher Art. Er will dich den Griechen zurückgeben und dir beweisen, daß du mich nicht liebst! ... Sag mir wahr und offen, bevor ich dich und ihn zurücklasse ... sag es mir, wie es ist.

Helena Ich bete dich an, Liebster.

Paris Sag mir, daß sie schön war, die Welle, die dich von Griechenland forttrug.

Helena Wunderschön! Es war eine herrliche Welle! ... Wo hast du eine Welle gesehen? ... Das Meer war glatt ...

Paris Sag mir, daß du Menelaus haßt! ...

Helena Menelaus? Ich hasse ihn!

Paris Weiter! ... Wiederhole: Ich werde niemals nach Griechenland zurückkehren!

Helena Du wirst niemals nach Griechenland zurückkehren.

Paris Aber nein! Es ist doch von dir die Rede.

Helena Natürlich! Wie dumm von mir! ... Niemals werde ich nach Griechenland zurückkehren.

Paris Sie hat es freiwillig gesagt! ... Und jetzt ist die Reihe an dir! (Er geht ab.)

Achte Szene
Helena, Hektor

Hektor Wie ist Griechenland? Schön?

Helena Paris hat es schön gefunden.

Hektor Ich frage, ob Griechenland schön ist ohne Helena?

Helena Danke für Helena.

Hektor Wie sieht es eigentlich dort aus, seitdem so viel davon die Rede ist?

Helena Es gibt sehr viele Könige, viele Ziegen und viel Marmor.

Hektor Wenn die Könige vergoldet sind und die Ziegen Angoraziegen, muß das bei Sonnenaufgang ein hübscher Anblick sein.

Helena Ich stehe spät auf.

Hektor Und Götter ... gibt es die auch in Mengen? Paris erzählt, daß der Himmel von ihnen bevölkert ist ... daß die Beine der Göttinnen herunterbaumeln.

Helena Paris stolziert immer mit der Nase in der Luft! Kann sein, daß er sie gesehen hat.

Hektor Und Helena nicht?

Helena Ich bin nicht begabt. Ich konnte nie einen Fisch im Meer unterscheiden. Wenn ich wieder nach Griechenland zurückkehren werde, will ich besser achtgeben.

Hektor Eben haben Sie Paris gesagt, daß Sie nie mehr zurückkehren werden.

Helena Weil er mich gebeten hat, es zu sagen. Ich folge Paris für mein Leben gern.

Hektor Ich verstehe. Es ist wie mit Menelaus? Sie hassen ihn nicht?

Helena Warum sollte ich ihn hassen?

Hektor Aus dem einzigen Grund, der wirklich hassen lehrt. Sie haben ihn zu viel gesehen.

Helena Menelaus? Oh! Nein! Eigentlich habe ich Menelaus nie wirklich gesehen. Was man »Sehen« nennt. Im Gegenteil.

Hektor Ihren Gatten?

Helena Unter den Menschen und Dingen sind einige, die farbig für mich sind. Diese sehe ich; an sie glaube ich. Menelaus habe ich nie recht wahrgenommen.

Hektor Er muß Ihnen aber doch sehr nahe gekommen sein?

Helena Ich mag ihn berührt haben. Aber ich kann nicht behaupten, daß ich ihn gesehen habe.

Hektor Man sagt, daß er Sie keinen Augenblick allein ließ.

Helena Gewiß. Wahrscheinlich habe ich ihn sehr oft übersehen.

Hektor Paris dagegen, der war für Sie sehr sichtbar?

Helena Er zeichnete sich am Himmel und auf der Erde ab wie ausgeschnitten!

Hektor Tut er das noch? Sehen Sie dort drüben? Er lehnt an der Mauer.

Helena Sind Sie sicher, daß es Paris ist?

Hektor Ja. Er wartet auf Sie.

Helena Seltsam! Er ist viel weniger deutlich.

Hektor Und doch ist die Mauer eben erst frisch geweißt worden! Jetzt — sehen Sie ihn im Profil!

Helena Es ist eigentümlich, wie viel weniger scharf die Menschen sich abheben, die auf einen warten, als diejenigen, auf die man wartet.

Hektor Sind Sie überzeugt, daß Paris Sie liebt?

Helena Ich weiß über die Gefühle anderer Menschen nicht gerne Bescheid. Nichts, was einen mehr hemmt. Wie beim Spiel, wenn man in die Karten des Gegners sieht. Da verliert man immer.

Hektor Und Sie? Lieben Sie ihn?

Helena Ich liebe es auch nicht, über meine eigenen Gefühle Bescheid zu wissen.

Hektor Aber — aber! ... Wenn Sie sich Paris hingeben und er in Ihren Armen einschlummert, wenn Sie noch ganz von Paris umfangen, von Paris beglückt sind, denken Sie da gar nicht ...

Helena Meine Rolle ist dann ausgespielt. Ich lasse das Weltall für mich denken. Es versteht das besser als ich!

Hektor Und der Genuß ... der muß Sie doch an jemand fesseln? An die anderen oder an Sie selbst!

Helena Ich weiß vor allem, daß es die anderen sind, die genießen ... Ein Umstand, der mich von beiden entfernt ...

Hektor Hat es, ehe Paris kam, viele »andere« gegeben?

Helena Einige.

Hektor Und nach ihm — wird es auch andere geben? Falls sie sich vom Horizont scharf genug abheben, nicht wahr? Oder von der Mauer? Oder vom Leintuch? Ich habe also richtig geraten, Helena. Nicht Paris lieben Sie, Sie lieben die Männer!

Helena Ich habe sie nicht ungern. Es ist angenehm, sich an ihnen zu reiben wie an großen Seifenstücken. Man steht wie im Seifenschaum ...

Hektor Kassandra! Kassandra!

Neunte Szene
Dieselben, Kassandra

Kassandra Was ist los?

Hektor Ich muß wirklich lachen. Immer sind es die Wahrsagerinnen, die Fragen stellen.

Kassandra Was willst du?

Hektor Kassandra, heute abend verläßt uns Helena mit dem griechischen Abgesandten.

Helena Ich? Was fällt Ihnen ein?

Hektor Sie haben mir soeben gesagt, daß Sie Paris nicht besonders lieben.

Helena Sie legen meine Worte willkürlich aus. Übrigens: wie Sie wollen!

Hektor Ich zitiere Sie als Autor: daß Sie sich gern an Männern reiben wie an großen Seifenstücken.

Helena Ja. Oder wie an Bimsstein, wenn Ihnen das besser gefällt. Also?

Hektor Also können Sie doch nicht einen Augenblick schwanken, ob Sie nach Griechenland zurückkehren wollen — was Ihnen gar nicht mißfällt — oder ob Sie der Anlaß einer so furchtbaren Katastrophe sein wollen, wie es der Krieg ist!

Helena Hektor, Sie verstehen mich gar nicht. Ich zögere nicht vor einer Wahl! Aber allzu leicht wäre es zu sagen: ich tue dies oder jenes, damit dies oder jenes geschieht. Sie haben es erraten, ich bin schwach. Das freut Sie sehr! Der Mann, der die Schwäche einer Frau entdeckt, ist wie ein Jäger, der am heißen Mittag eine Quelle entdeckt. Aber glauben Sie ja nicht, weil Sie die schwächste aller Frauen überreden, auch die Zukunft überredet zu haben. Man bestimmt nicht das Schicksal, indem man Kinder gängelt ...

Hektor Ich verstehe nichts von griechischen Spitzfindigkeiten — und Frivolitäten.

Helena Es geht um ganz andere Dinge. Zumindest um Ungeheuer und Pyramiden.

Hektor Entscheiden Sie sich für Ihre Abreise? Ja oder nein?

Helena Drängen Sie nicht ... Ich wähle die Ereignisse ebenso aus, wie ich Gegenstände oder Menschen auswähle. Ich wähle die, die keine Schatten für mich sind. Ich wähle die, die ich sehe.

Hektor Ich weiß. Sie haben es bereits gesagt! Nur Menschen und Dinge, die für Sie Farbe haben, sehen Sie wirklich. Und Sie sehen sich nicht in wenigen Tagen den Palast des Menelaus betreten?

Helena Nein. Undeutlich.

Hektor Man könnte Ihren Gatten, zu Ehren Ihrer Rückkehr, sehr farbenfroh anziehen.

Helena Der Purpur sämtlicher Muscheln würde nicht genügen, um Menelaus meinen Augen sichtbar zu machen.

Hektor Kassandra, du hast eine Konkurrentin erhalten. Auch Helena blickt in die Zukunft.

Helena Ich vermag nicht die Zukunft zu deuten. Aber ich sehe in dieser Zukunft farbige Szenen. Und andere, die farblos sind. Bis heutigen Tags sind immer nur die farbigen Szenen wahr geworden.

Hektor Wir werden Sie den Griechen am hellen Mittag übergeben. Auf dem blendenden Strand zwischen der violetten See und der grellgelben Stadtmauer. Wir werden alle im goldenen Waffenschmuck erscheinen, mit rotem Rock, und zwischen meinem weißen Hengst und des Priamus schwarzer Stute werden meine Schwestern, in grüne Peplums gehüllt, Sie nackt dem griechischen Abgesandten übergeben, über dessen silbernem Helm ich den rosafarbenen Federbusch errate. Sie sehen das, nicht wahr?

Helena O nein. Es ist alles ganz dunkel.

Hektor Sie wollen mich wohl zum besten halten?

Helena Ich? Was fällt Ihnen ein! Warum? Gehen wir! Bereiten wir uns für meine Übergabe an die Griechen vor. Das Weitere wird sich finden.

Hektor Ahnen Sie nicht, daß Sie der Menschheit einen Schimpf antun, oder sind Sie so ahnungslos?

Helena Was für einen Schimpf soll ich ihr antun?

Hektor Wissen Sie nicht, daß Ihr farbiges Bilderbuch die Welt verhöhnt? Während wir alle kämpfen müssen und uns opfern, um einer Stunde willen, die ganz uns gehört, blättern Sie seelenruhig in Ihren Farbenstichen, die von Ewigkeit her vorliegen! ... Was haben Sie? An welchem Blatt bleiben Ihre mit Blindheit geschlagenen Augen haften? Auf dem wahrscheinlich, das Sie selbst auf diesem Festungswall hier zeigt, wie Sie sich die Schlacht ansehen! Sehen Sie die Schlacht?

Helena Ja.

Hektor Auch die Stadt, die zusammenstürzt oder brennt? Nicht wahr?

Helena Ja. Feuerrot.

Hektor Und Paris? Sehen Sie den Leichnam von Paris, wie er geschleift wird? Hinter einem Wagen.

Helena Ah! Glauben Sie, daß es Paris ist? Ich sehe wohl ein rosenfarbenes Bündel, das im Staube rollt. An seiner Hand blitzt ein Diamant. Gesichter erkenne ich oft kaum. Aber Schmuck — immer ... Ja! Es ist sein Ring.

Hektor Ausgezeichnet ... Ich wage nicht, Sie um Andromache und mich zu befragen ... Die Gruppe Andromache—Hektor? ... Die sehen Sie doch auch? Nicht wahr? Und wie sehen Sie sie? Glücklich, gealtert, leuchtend?

Helena Ich mache keinen Versuch, diese Gruppe zu sehen.

Hektor Und die Gruppe Andromache, die über dem Leichnam Hektors weint. Glänzt es, dieses Bild?

Helena Wissen Sie, ich kann etwas leuchten, sogar sehr hell leuchten sehen, ohne daß etwas geschieht. Niemand ist unfehlbar.

Hektor Es genügt. Ich verstehe ... Und zwischen der weinenden Mutter und dem hingestreckten Vater ist ein Sohn?

Helena Ja ... Er zaust an den verwirrten Haaren des Vaters ... Er ist reizend.

Hektor Spiegeln sich diese Szenen in Ihren Augen? Kann man sie darin sehen?

Helena Ich weiß nicht. Schauen Sie selbst.

Hektor Nichts! Nichts mehr! Nur die Asche der ungeheuren Feuersbrunst. Nur der Staub von Smaragden und von Gold. Wie rein ist das Auge der Welt! Und doch sind es nicht die Tränen, die es zu waschen bestimmt sind ... Würdest du weinen, Helena, wenn man dich umbrächte?

Helena Ich weiß nicht. Aber ich würde schreien! Und ich fühle, daß ich schreien werde, Hektor, wenn Sie mich weiter so quälen ... Ich werde gleich schreien!

Hektor Helena, noch heute abend kehrst du nach Griechenland zurück. Oder ich töte dich!

Helena Aber ich will ja gern fort! Ich bin bereit. Ich wiederhole nur, es ist mir unmöglich, von dem Schiff, das mich davontragen soll, das geringste zu sehen, weder die Beschläge des Fockmastes sehe ich glitzern noch den goldenen Nasenring des Kapitäns noch das Augenweiß des Schiffsjungen.

Hektor Laß es grau sein, das Meer, unter einer grauen Sonne, wenn du heimfährst. Aber wir wollen den Frieden!

Helena Ich sehe den Frieden nicht.

Hektor Verlange von Kassandra, daß sie ihn dir zeigt. Sie versteht sich auf Zauberkünste. Sie beschwört Gestalten und Geister herauf.

Ein Bote Hektor! Priamus ruft nach dir! Die Priester sind dagegen, daß man die Pforte des Krieges schließt. Sie sagen, daß die Götter darin eine Lästerung sehen würden.

Hektor Merkwürdig, wie in schwierigen Fällen die Götter davon absehen, sich zu äußern.

Bote Sie haben sich geäußert. Der Blitz ist in den Tempel gefahren, und aus den Eingeweiden der Opfer ist zu erkennen, daß sie Helenas Rückgabe mißbilligen!

Hektor Ich würde viel dafür geben, könnte ich auch die Eingeweide der Priester beschauen ... Ich folge dir. (Der Bote geht ab.) Sie sind also einverstanden, Helena?

Helena Ja.

Hektor Von nun an werden Sie sagen, was ich sage, daß Sie sagen sollen? Und tun, was ich sage, daß Sie tun sollen?

Helena Ja.

Hektor In Gegenwart von Ulysses werden Sie mir nicht widersprechen, sondern mir beipflichten?

Helena Ja.

Hektor Hörst du sie, Kassandra! Hörst du diesen Block von Verneinungen, der »Ja« sagt? Alle haben sie mir nachgegeben, Paris hat mir nachgegeben, Priamus hat mir nachgegeben, Helena gibt mir nach. Und doch fühle ich aus einem jeden dieser scheinbaren Siege die Niederlage heraus. Man glaubt gegen Riesen zu kämpfen und glaubt schon, sie zu überwältigen, da zeigt sich, daß man mit etwas Unbeugsamem ringt, mit einem Reflex auf der Netzhaut einer Frau ... Magst du noch so oft »Ja« sagen, Helena, du bist der Gipfel des Eigensinns, der mich bergehoch narrt.

Helena Möglich. Aber ich kann nichts dafür. Es ist nicht der meine.

Hektor Welcher Irrsinn ist schuld, daß die Welt just in dies dumpfe Hirn ihren Spiegel legte!

Helena Sehr schade ... gewiß! Aber kennen Sie ein Mittel, über den Eigensinn der Spiegel Herr zu werden?

Hektor Ja. Darüber denke ich gerade nach.

Helena Wenn man sie zerbricht ... bleibt vielleicht, was sie gespiegelt haben, darum weniger bestehen?

Hektor Das ist der Kern der Frage.

Ein zweiter Bote Auf, Hektor! Der Strand ist in Aufruhr. Die Schiffe der Griechen sind in Sicht. Und sie haben ihre Flaggen nicht an der Oberbramstenge gehißt, sondern an der Vorbramstenge. Die Ehre unserer Flotte steht auf dem Spiel. Priamus befürchtet, daß der Abgesandte bei seiner Landung erschlagen wird.

Hektor Kassandra, ich vertraue dir Helena an! Du wirst meine Befehle erhalten. (Ab.)

Zehnte Szene
Helena, Kassandra

Kassandra Ich sehe nichts, weder in Farben noch in Grau. Aber jedes Wesen, allein dadurch, daß es sich mir naht, lastet auf mir. An der Bangigkeit, die meine Adern durchbebt, fühle ich sein Schicksal!

Helena Ich dagegen sehe in den farbigen Bildern, die mir vorschweben, manchmal eine Einzelheit, die besonders herausleuchtet. Ich habe es Hektor nicht gesagt. Aber der Hals seines Sohnes, dort, wo die Schlagader pulst, leuchtete auf ...

Kassandra Ich bin wie ein Blinder, der sich vorwärtstastet. Inmitten der Wahrheit stehe ich blind. Die anderen alle, sie sehen, und es ist die Lüge, die sie sehen. Ich taste die Wahrheit.

Helena Was wir voraushaben, ist, daß sich unsere Visionen mit unseren Erinnerungen vermischen, die Zukunft mit der Vergangenheit. Man wird weniger sensibel ... Ist es wahr, daß Sie zaubern? Daß Sie den Frieden heraufbeschwören können?

Kassandra Den Frieden? Nichts leichter als das. Als Bettler lauscht er hinter jeder Tür! ... Da ist er schon. (Der Friede erscheint.)

Helena Wie schön er ist!

Der Friede Zu Hilfe, Helena! Steh mir bei!

Helena Doch wie blaß er ist!

Der Friede Ich soll blaß sein? Wieso blaß? Siehst du denn nicht das Gold, das in meinen Haaren schimmert?

Helena Sieh da — graues Gold — eine Novität ...

Der Friede Graues Gold! Mein Gold soll grau sein? (Er verschwindet.)

Helena Jetzt ist er weg.

Kassandra Offenbar legt er rasch etwas Rot auf.

(Der Friede erscheint wieder, greulich aufgeschminkt.)

Der Friede Und jetzt?

Helena Ich sehe ihn immer undeutlicher.

Der Friede (nimmt eine andere Stellung ein) Und so?

Kassandra Auch so sieht Helena dich nicht.

Der Friede Du aber siehst mich. Da du mit mir sprichst!

Kassandra Es ist meine Spezialität, mich mit den Unsichtbaren zu unterhalten.

Der Friede Was ist los? Warum schreien die Menschen durch die Stadt und den Strand entlang?

Kassandra Es scheint, ihre Götter mischen sich drein und auch ihre Ehre.

Der Friede Ihre Götter! Ihre Ehre!

Kassandra Jawohl ... Du bist krank.

Vorhang

ZWEITER AKT

Ein abgeschlossener Platz des königlichen Palastes. Von weitem erblickt man das Meer. In der Mitte eine Art Monument. Es ist die kolossale Pforte des Krieges. Ihre Flügel stehen weit offen.

Erste Szene
Helena, der junge Troilus

Helena He! Du da drüben ... ja! Dich meine ich ... Komm her!

Troilus Nein.

Helena Wie heißt du?

Troilus Troilus!

Helena Komm her!

Troilus Nein.

Helena Komm her, Troilus! ... (Troilus nähert sich ihr.) Ah! Da bist du. Wenn man dich beim Namen ruft, kommst du doch! Du junger Windhund! ... Übrigens ist das nett. Du hast mich genötigt zu schreien, weißt du das? Es ist das erste Mal, daß mir das widerfährt, wenn ich mit einem Mann spreche. Sie kleben ja sonst förmlich an mir, so daß ich nur die Lippen zu bewegen brauche. Ich habe nach Möwen, Rehen, dem Echo gerufen ... aber nach einem Mann niemals! Das wirst du mir büßen ... Was hast du? Du zitterst?

Troilus Ich zittere nicht.

Helena Du zitterst, Troilus.

Troilus Ja. Ich zittere.

Helena Warum schleichst du immer hinter mir her? Wenn ich auf meinem Spaziergang die Sonne im Rücken habe und plötzlich stehen bleibe, stößt dein Schatten an meine Füße. Beinahe überragt er mich. Du bist ein frecher Kerl. Sag mir, was du willst ...

Troilus Ich will nichts.

Helena Sag mir, was du willst, Troilus!

Troilus Alles! Ich will alles!

Helena Du willst alles? Den Mond?

Troilus Alles! Mehr als alles!

Helena Du sprichst schon wie ein richtiger Mann! Küssen willst du mich, gelt?

Troilus Nein!

Helena Du willst mich küssen, mein kleiner Troilus! Nicht wahr?

Troilus Ich würde mich gleich darauf umbringen.

Helena Komm näher ... Wie alt bist du?

Troilus Fünfzehn Jahre ... Ach!

Helena Bravo für dein Ach! — Hast du schon junge Mädchen geküßt?

Troilus Ich hasse sie!

Helena Du hast schon welche geküßt?

Troilus Man küßt sie alle! Ich würde mein Leben darum geben, wenn ich noch keine geküßt hätte!

Helena Du scheinst über eine große Anzahl von Leben zu verfügen! Warum hast du mir nicht einfach gesagt: Helena, ich möchte Sie küssen! ... Ich finde nichts dabei, daß du mich küßt! ... Küsse mich!

Troilus Niemals!

Helena Wenn sich der Tag zu Ende neigt, setze ich mich auf eine Zinne und genieße den Sonnenuntergang über den Inseln. Wärst du da ganz leise zu mir herangeschlichen, hättest meinen Kopf mit den Händen dir zugekehrt — eben noch golden, wäre er nun dunkel geworden, du hättest ihn freilich nicht mehr so deutlich gesehen — aber küssen hättest du mich immer noch können ... Es hätte mich sehr gefreut ... Schau, schau, hätte ich zu mir gesagt, das ist ja der kleine Troilus, der mich küßt! ... Küsse mich!

Troilus Niemals!

Helena Ich verstehe, nach diesem Kuß würdest du mich hassen!

Troilus Ach, die Männer haben es so gut! Was sie wollen, das sagen sie auch.

Helena Du sagst es selber gar nicht schlecht.

Zweite Szene
Helena, Paris, der junge Troilus

Paris Trau ihm nicht, Helena! Troilus ist ein gefährlicher Kunde.

Helena Im Gegenteil, Er will mich küssen.

Paris Troilus, du weißt, wenn du Helena küßt, bringe ich dich um!

Helena Es ist ihm egal zu sterben. Sogar mehrere Male.

Paris Was hat er nur? Da seht ihn! ... Er wird sich auf dich stürzen! ... Er ist wirklich zu nett! Umarme Helena, Troilus! Ich erlaube es dir.

Helena Wenn du ihn dazu bringst, bist du schlauer als ich. (Troilus, der sich bereits auf Helena stürzen wollte, weicht sofort zurück.)

Paris Höre, Troilus! Unsere ehrwürdigen Stadtväter nahen in corpore, um die Pforte des Krieges zu schließen ... Umarme Helena vor ihren Augen: Dein Name wird dann berühmt werden. Du möchtest doch später einmal berühmt werden?

Troilus Nein. Unbekannt.

Paris Was? Du willst nicht berühmt werden? Du möchtest nicht reich und mächtig sein?

Troilus Nein. Arm und häßlich.

Paris Laß mich ausreden! ... Um alle Frauen besitzen zu können?

Troilus Ich will keine! Keine einzige!

Paris Da kommen die Senatoren! Wähle! Entweder du küssest Helena vor ihnen oder ich küsse sie vor dir. Du willst lieber, daß ich es tue? Schön. Schau her. (Er küßt Helena.) Oh, was für einen neuen, noch nicht dagewesenen Kuß gibst du mir da, Helena?

Helena Den Kuß, der für Troilus bestimmt war.

Paris Du weißt nicht, Knabe, was dir entging. Oh, du gehst? Gute Nacht.

Helena Wir werden uns doch noch küssen, Troilus! Verlasse dich drauf. (Troilus geht.) Troilus!

Paris (etwas gereizt) Warum schreist du denn so, Helena?

Dritte Szene
Helena, Demokos, Paris

Demokos Helena! Einen Augenblick! Und sieh mir gerade ins Gesicht. Ich halte einen wunderbaren Vogel in der Hand, den ich freilassen werde! — Bist du so weit? ... So ist’s recht ... Jetzt richte dein Haar. Und lächle dein schönstes Lächeln.

Paris Ich sehe nicht ein, warum der Vogel leichter davonfliegen soll, wenn Helena ihr Haar aufbauscht und sie ihr Lächeln Nummer eins zum besten gibt.

Helena Schaden kann es mir ja keinesfalls.

Demokos Halte jetzt ganz still ... Eins! Zwei! Drei! So ... Fertig! Du kannst gehen ...

Helena Und der Vogel?

Demokos Es ist ein Vogel, der sich unsichtbar machen kann.

Helena Laß dir nächstens das Rezept von ihm geben. (Sie geht ab.)

Paris Was soll der Unsinn?

Demokos Ich dichte ein Lied auf das Gesicht Helenas. Und dafür mußte ich es wohl betrachten und es mir einprägen mitsamt dem Lächeln und den Locken. Es ist gelungen.

Vierte Szene
Demokos, Paris, Hekuba, die kleine Polyxena, Abneos, der Geometer, einige Greise

Hekuba Nun, werdet ihr sie schließen, diese Pforte?

Demokos Keineswegs! Wir hätten sie noch heute abend wieder aufzumachen.

Hekuba Hektor will es. Er wird Priamus bestimmen.

Demokos Das wollen wir sehen. Übrigens habe ich für Hektor eine Überraschung in Reserve.

Polyxena Wohin führt diese Pforte, Mama?

Abneos In den Krieg, mein Kind. Wenn sie offen steht, heißt das, daß Krieg ist.

Demokos Freunde ...

Hekuba Krieg hin, Krieg her. Euer Symbol ist Blödsinn. Wie das unordentlich aussieht, diese Flügel, die immer weit offen stehen. Alle Hunde sammeln sich davor.

Der Geometer Es geht hier nicht um hausfrauliche Sorgen. Es geht um Krieg und um die Götter!

Hekuba Das sage ich ja, die Götter können keine Türen zumachen.

Polyxena Aber ich mache sie sehr schön zu. Nicht wahr, Mama?

Paris (küßt die Finger der kleinen Polyxena) Du klemmst dir dabei sogar die Finger ein, Liebling.

Demokos Paris, kann ich endlich um Gehör bitten? ... Abneos und du, Geometer, und ihr, Freunde ... wenn ich euch gerufen habe, ehe die Feier beginnt, so ist es, weil wir unsere erste Beratung abhalten müssen. Und es ist von guter Vorbedeutung, daß dieser erste Kriegsrat nicht von Generälen abgehalten wird, sondern von Intellektuellen. Denn um Krieg zu führen, genügt es nicht, unsere Soldaten mit Waffen zu versehen. Es ist unerläßlich, ihre Begeisterung aufs höchste zu steigern! Die Führer pflegen ihren Soldaten vor dem Angriff einen kräftigen Trunk zu verabreichen. Aber den Griechen gegenüber wird dieses Mittel versagen, wenn dieser Weinrausch nicht durch einen moralischen Rausch verstärkt wird. Und wir, die Dichter, wollen ihn den Kämpfern einflößen! Da uns das Alter vom Krieg fernhält, so wollen wir wenigstens helfen, ihn erbarmungslos zu führen! Ich merke, Abneos, daß du etwas zu sagen hast. Und ich erteile dir das Wort!

Abneos Ja! Wir brauchen ein Kriegslied!

Demokos Sehr richtig. Ein Krieg fordert Kriegslieder!

Paris Bis jetzt ist es auch so gegangen.

Hekuba Der Krieg heult laut genug von allein ...

Abneos Wir haben darauf verzichtet, weil wir bis jetzt immer nur gegen Barbaren gekämpft haben. Es war eine Art Jagd. Da hat das Jagdhorn genügt. Aber gegen die Griechen führen wir Krieg auf einem viel höheren Plan.

Demokos Sehr richtig, Abneos. Die Griechen kämpfen nicht mit aller Welt!

Paris Wir haben doch schon eine Nationalhymne.

Abneos Ja. Aber die gilt für den Frieden.

Paris Eine Friedenskantate genügt vollauf, wenn wildes Augenrollen und drohende Gebärden dazukommen. Da verwandelt sie sich von selbst in ein Kriegslied ... Wie lauten denn die Worte unserer Volkshymne?

Abneos Du weißt ja, daß es saft- und kraftlose Worte sind. — »Wir bringen die Ernte ein.« Und »Wir keltern das Blut der Reben«! ...

Demokos Das ist höchstens ein Kriegslied gegen Zerealien. Die Spartaner werdet ihr nicht in Schrecken versetzen, indem ihr Drohlieder gegen den Buchweizen ausstoßt.

Paris Singe sie, den Speer in der Hand und einen Leichnam zu deinen Füßen, und du wirst sehen ...

Hekuba Zum Glück kommt das Wort »Blut« drin vor.

Paris Und auch das Wort »Ernte«, das der Krieg recht gerne hört.

Abneos Wozu der Streit, da uns Demokos in zwei Stunden ein nagelneues Kriegslied liefern kann.

Demokos Zwei Stunden? Das ist etwas kurz bemessen.

Hekuba Nur keine Angst. Du brauchst nicht länger. Und auf das Lied folgt dann die Hymne und auf die Hymne die Kantate. Die Dichter sind nicht zu halten, sobald der Krieg erklärt ist! Der Reim ist noch immer die beste Trommel!

Demokos Und die nützlichste, Hekuba. Du sprichst wie ein Buch. Ich kenne den Krieg. Solange er nicht da ist, solange seine Pforten geschlossen sind, ist jeder frei, ihm zu fluchen und alle Schande zu sagen. Er achtet nicht der Schmähungen in Friedenszeiten. Aber sowie er da ist, wird sein Stolz übermächtig. Man erfreut sich nur seiner Gunst, wenn man ihm huldigt, man gewinnt ihn nur, indem man ihm schön tut. Uns, den Rednern und Schriftstellern, obliegt es sodann, den Krieg zu loben, ihn zu feiern zu jeder Stunde des Tages, seinen monströsen Körper, wo immer er helle oder zweideutige Stellen aufweist, zu umschmeicheln. Sonst hat man ihn zum Feind. Seht euch die Offiziere an! Tapfer vor dem Feind, feige dem Krieg gegenüber. Es ist die Devise des echten Generals.

Paris Und ist dir schon etwas eingefallen?

Demokos Eine wunderbare Idee habe ich gehabt. Du wirst sie am besten zu würdigen wissen ... Der Krieg muß es satt haben, immer als Medusenhaupt und mit den Lippen der Gorgonen dargestellt zu werden: Nun ist mir die Idee gekommen, sein Antlitz mit dem Antlitz Helenas zu vergleichen. Der Krieg wird entzückt sein von dieser Ähnlichkeit.

Polyxena Mama, wem sieht er ähnlich, der Krieg?

Hekuba Der Tante Helena.

Polyxena Die ist aber hübsch!

Demokos Die Debatte ist also geschlossen. Ich liefere das Kriegslied. Was hast du, Geometer? Warum bist du so aufgeregt?

Der Geometer Weil es Wichtigeres gibt als das Kriegslied! Viel Wichtigeres!

Demokos Du meinst wohl die Kriegsmedaillen; die Falschmeldungen?

Der Geometer Nein. Die Schimpfworte!

Demokos Die Schimpfworte?

Der Geometer Ehe sie sich die Speere zuschleudern, schleudern sich die Griechen Schimpfworte zu ... »Vetter einer Kröte!«, schreien sie, »Sohn eines Ochsen!« ... Kurz, sie schmähen einander. Und sie haben recht. Denn sie wissen, daß der Körper verwundbarer ist, wenn die Eigenliebe gereizt wird. Krieger, die für ihre Kaltblütigkeit berühmt sind, verlieren den Kopf, wenn man sie »Wanzenbrut« oder »Drüsenschleim« anschreit. Wir Trojaner aber leiden unter einem schrecklichen Mangel an Schimpfworten.

Demokos Recht hat der Geometer. Wir sind wirklich die einzigen, die ihre Gegner nicht anpöbeln, bevor sie ihnen den Garaus machen ...

Paris Findest du nicht, es genügt, daß sich die Zivilisten beschimpfen, Geometer?

Der Geometer Die Armeen sollten den Haß der Zivilisten teilen. Aber du kennst sie. In dieser Hinsicht sind sie enttäuschend. Sich selbst überlassen, ergehen sie sich in gegenseitiger Hochschätzung. Zwischen den feindlichen Reihen waltet dann bald genug die einzige wahre Brüderlichkeit in der Welt. Auf den Schlachtfeldern herrscht gegenseitige Achtung. Und der Haß staut sich dafür in den Schulen, den Salons und bei den Krämern. Wenn unsere Soldaten im Kampf der Schimpfworte nicht wenigstens Gleiches leisten, so werden sie bald jede Freude am Schimpfen und Verleumden verlieren und infolgedessen unfehlbar auch am Krieg.

Demokos Der Antrag ist angenommen! Noch heute abend werden wir einen Wettbewerb ausschreiben.

Paris Ich glaube, sie sind Manns genug, um sich ohne uns zu behelfen.

Demokos Welch ein Irrtum! Wärst du fähig, du, der du für geschickt giltst, die entsprechenden Zurufe ohne Anweisung herauszufinden?

Paris Ganz gewiß.

Demokos Du machst dir Illusionen. Stelle dich vor Abneos hin.

Paris Warum gerade Abneos?

Demokos Weil er für Spott und Stachelreden ein besonders geeignetes Objekt ist, mit seinem Schmerbauch und seinen Plattfüßen!

Abneos Das verbitte ich mir, du Galgenvogel!

Paris Nein! Abneos regt meine Phantasie nicht an! Aber du, wenn du willst.

Demokos Ich! Bravo! Jetzt wirst du einmal hören, was es heißt, Schimpfworte improvisieren! Zähle zehn Schritte ab ... so ... Beginne ...

Hekuba Schau ihn dir gut an. Das wird dich inspirieren.

Paris Alter Schmarotzer! Du Dichter mit den schmutzigen Füßen du!

Demokos Augenblick! ... Setze lieber vor jedes Schimpfwort den Namen des Betreffenden, um Verwechslungen zu vermeiden ...

Paris Du hast recht! ... Demokos! Kalbsauge! Schuppentier!

Demokos Grammatikalisch ist das alles korrekt. Aber recht naiv ... Schuppentier! Weshalb soll ich deshalb in eine so sinnlos schäumende Wut geraten, daß ich dich umbringen muß! ... Nein, »Schuppentier« ist vollkommen wirkungslos.

Hekuba Aber er hat dich auch »Kalbsauge« genannt.

Demokos Kalbsauge ist etwas besser! ... Aber ... du siehst, wie du dich blamierst, Paris. Suche doch etwas; was mich außer Rand und Band bringen könnte! Was sind meine Fehler, deiner Ansicht nach?

Paris Du bist feig, dein Atem ist übelriechend und du hast keine Spur von Talent.

Demokos Soll ich dir eine herunterhauen?

Paris Das sag ich doch alles nur dir zu Gefallen.

Polyxena Mama, warum zankt man den Onkel Demokos aus?

Hekuba Weil er ein Gimpel ist!

Demokos Hekuba! Du wagst es ...

Hekuba Ich sage, daß du ein Gimpel bist. Wenn die Gimpel die Blödheit, die Aufgeblasenheit, die Häßlichkeit und den Gestank der Aasgeier besäßen, dann wärest du ein Gimpel!

Demokos Paris, deine Mutter ist dir weit über! Nimm dir ein Beispiel an ihr. Laß sie pro Tag und pro Soldat eine Stunde lang Schimpfwörter exerzieren, und wir werden den Griechen bald über sein. Was die Kriegshymne anlangt, wäre es vielleicht ratsam, sie damit zu betrauen.

Hekuba Meinetwegen. Aber ich würde keinesfalls sagen, daß der Krieg Helena ähnlich sieht.

Demokos Wem sieht er ähnlich nach deinem Dafürhalten?

Hekuba Das sage ich dir, wenn die Pforte geschlossen ist.

Fünfte Szene
Dieselben, Priamus, Hektor, Busiris, später Andromache, dann Helena

Während die Pforte geschlossen wird, nimmt Andromache die kleine Polyxena beiseite. Sie flüstert ihr einen Auftrag oder ein Geheimnis zu.

Hektor Sie wird geschlossen.

Demokos Noch einen Augenblick, Hektor!

Hektor Warum? Ist die Zeremonie nicht bereit?

Hekuba Ja! Die Angeln der Pforte schwimmen in Olivenöl!

Hektor Nun also?

Priamus Hektor, unsere Freunde meinen, auch der Krieg sei bereit. Überlege es dir wohl. Sie haben recht. Wenn du diese Pforte schließt, wird man sie vielleicht in einer Minute wieder öffnen müssen.

Hekuba Eine Minute Frieden ist nicht zu verachten.

Hektor Vater! Du mußt doch wissen, was für Männer, die seit Monaten kämpfen, das Wort »Friede« bedeutet. Es ist, als ob Ertrinkende oder in Schlamm Versinkende endlich wieder festen Boden unter sich fühlten. Und wenn es auch nur ein Quentchen Friedenserde ist, laß uns den Frieden streifen, eine Minute lang, laß uns Fuß darauf fassen, wäre es nur mit der Zehe!

Priamus Hektor, bedenke wohl: Heute das Wort »Friede« in die Stadt zu schleudern, ist eine ebenso große Untat, wie ihre Brunnen zu vergiften. Du wirst das Leder und das Eisen schlapp machen. Du wirst mit dem Wort »Frieden« Erinnerungen, Freundschaften, Hoffnungen wie Kleingeld in Umlauf setzen. Die Soldaten werden nicht mehr zu halten sein. Das Brot des Friedens werden sie kaufen, den Wein des Friedens trinken, im Zeichen des Friedens ihre Frauen umarmen. Und eine Stunde später wirst du sie in den Krieg schicken.

Hektor Es kommt nicht zum Krieg.

(Von Seite des Hafens wütendes Geschrei.)

Demokos Wirklich nicht? Höre!

Hektor Schließen wir die Pforte. Hier werden wir binnen kurzem die Griechen empfangen. Die Unterredung wird ohnedies schwierig genug sein. Es schickt sich, sie wenigstens im Frieden zu empfangen.

Priamus Mein Sohn, wissen wir denn überhaupt, ob wir den Griechen gestatten dürfen, zu landen?

Hektor Sie werden landen. Die Unterredung mit Ulysses ist unsere letzte Friedenschance.

Demokos Sie werden nicht landen. Unsere Ehre steht auf dem Spiele. Wir wären das Gespött der Welt ...

Hektor Und du nimmst es auf dich, dem Senat eine Maßnahme vorzuschlagen, die den Krieg bedeutet?

Demokos Auf mich? Fehlgegriffen. Tritt vor, Busiris. Deine Sendung hebt an.

Hektor Wer ist dieser Fremde?

Demokos Dieser Fremde ist der größte heute lebende Sachverständige für Fragen des Völkerrechts. Ein glücklicher Zufall fügt es, daß er heute auf der Durchreise in Troja ist. Kein parteiischer Zeuge also. Er ist ein Neutraler. Unser Senat schließt sich seinem Urteil an, das morgen alle Völker teilen werden.

Hektor Und was für ein Urteil ist das?

Busiris Mein Urteil, Fürsten, nach Aufnahme des Lokalaugenscheins und anschließender Zeugeneinvernahme, lautet: die Griechen haben sich den Trojanern gegenüber eines dreifachen Verstoßes gegen die Vorschriften des Völkerrechts schuldig gemacht. Ihnen die Landung zu gestatten, hieße den Rechtstitel des Beleidigten aufgeben, der Ihnen in dem Konflikt die Sympathien der ganzen Welt garantiert.

Hektor Erkläre dich näher.

Busiris Zum ersten haben sie ihre Flagge an der Vorbramstenge und nicht an der Oberbramstenge gehißt. Ein Kriegsschiff, Fürsten und liebe Kollegen, hißt seinen Wimpel an der Vorbramstenge nur als Erwiderung auf den Gruß eines Rindertransportschiffes. Angesichts einer Stadt und ihrer Bevölkerung ist es also die Beleidigung an sich. Übrigens gibt es einen Präzedenzfall. Im vorigen Jahre haben die Griechen bei der Einfahrt in den Hafen von Ophea ihre Flagge an der Vorbramstenge gehißt. Die Entgegnung war schlagend. Ophea hat den Krieg erklärt.

Hektor Und was ist geschehen?

Busiris Ophea wurde besiegt. Es gibt kein Ophea und keine Opheer mehr.

Hekuba Ausgezeichnet.

Busiris Die Vernichtung eines Volkes beeinträchtigt in keiner Weise seine internationale moralische Position.

Hektor Weiter.

Busiris Zum zweiten hat die griechische Flotte bei der Einfahrt in eure Gewässer die sogenannte Frontalformation eingenommen. Auf unserem letzten Kongreß wurde beantragt, diese Formation in den Paragraphen der sogenannten Defensiv-Offensiv-Maßnahmen aufzunehmen. Es ist mir gelungen durchzusetzen, daß man ihr den wahren Rang einer Offensiv-Defensiv-Maßnahme zuerkannte, so ist sie dann rundweg eine verschleierte Form der Seefront, die selbst wieder eine verschleierte Form der Blockade ist, das heißt, sie stellt einen Verstoß erster Ordnung dar. Auch hier haben wir einen Präzedenzfall. Vor fünf Jahren haben die griechischen Schiffe die Frontalformation angenommen, als sie vor Magnesia ankerten. Magnesia hat in der gleichen Stunde den Krieg erklärt.

Hektor Hat es den Krieg gewonnen?

Busiris Es hat ihn verloren. Von seinen Mauern steht kein Stein mehr. Mein Paragraph aber besteht.

Hekuba Ich gratuliere. Es bangte uns schon.

Hektor Zum Ende.

Busiris Der dritte Verstoß ist weniger belastend. Einer der griechischen Dreiruderer ist ohne Erlaubnis und heimtückischerweise gelandet. Sein Kommandant Ajax, der gewalttätigste und liederlichste der Griechen, kommt unter Skandal und Provokation gegen die Stadt herauf und schreit, daß er Paris töten will. Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus dürfte dieser Verstoß übersehen werden. Denn es ist ein Verstoß, der nicht in den vorgeschriebenen Formen begangen wurde.

Demokos Nun bist du im Bilde. Es gibt zwei Auswege: die Beleidigung einstecken oder sie zurückgeben. Wähle!

Hektor Onea, laufe Ajax entgegen. Sorge dafür, daß er hierherkommt.

Paris Ich erwarte ihn.

Hektor Du wirst so gut sein, im Palast zu bleiben, bis ich dich rufe. Was dich angeht, Busiris, wisse: Unsere Stadt versteht sich mitnichten zu der Ansicht, daß sie von den Griechen beleidigt wurde.

Busiris Das überrascht mich nicht. Ihr makelloser Stolz ist ja legendär.

Hektor Du wirst also, und zwar sofort, ein Gutachten abgeben, welches unseren Senat zu der Erklärung ermächtigt, daß von seiten unserer Besucher kein Verstoß geschehen ist, sondern daß wir makellose Hermeline sie mit allen Ehren als unsere Gäste empfangen können.

Demokos Was sind das für Witze?

Busiris Dies entspricht nicht den Tatsachen, Hektor.

Hektor Mein lieber Busiris, wir wissen hier alle, daß die Rechtslehre die stärkste Schule der Phantasie ist. Nie hat ein Dichter die Natur so frei ausgelegt wie ein Jurist die Wirklichkeit.

Busiris Der Senat hat ein Gutachten von mir verlangt, ich habe es gegeben.

Hektor Und ich, ich verlange von dir eine Auslegung. Das ist noch juristischer.

Busiris Sie geht gegen mein Gewissen.

Hektor Dein Gewissen hat Ophea untergehen sehen, hat Magnesia untergehen sehen, und es sieht jetzt leichten Herzens dem Untergang Trojas entgegen?

Hekuba Ja. Er ist aus Syrakus.

Hektor Ich flehe dich an, Busiris. Es geht um das Leben zweier Völker. Hilf uns.

Busiris Ich kann euch nur eine Hilfe bieten, die Wahrheit.

Hektor Das ist es ja. Finde eine Wahrheit, die uns rettet. Wenn das Recht den Unschuldigen nicht zum Harnisch dient, wozu dient es denn? Schmiede uns eine Wahrheit. Übrigens ist die Sache sehr einfach; wenn du diese Wahrheit nicht findest, behalten wir dich hier, so lange der Krieg dauert.

Busiris Wie?

Demokos Du mißbrauchst deine Stellung, Hektor.

Hekuba Im Kriege wird das Recht eingesperrt. Da wird man doch auch noch einen Juristen einsperren dürfen.

Hektor Laß es dir gesagt sein, Busiris. Meine Drohungen oder meine Versprechungen habe ich noch immer gehalten. Entweder werden diese Wachen dich auf Jahre ins Gefängnis abführen oder du reist noch heute abend ab, die Taschen voll Gold. Nun weißt du Bescheid, unterziehe die Frage aufs neue deiner überaus unparteiischen Expertise.

Busiris Es gibt allerdings Rechtsmittel.

Hektor Ich hab’s ja gewußt.

Busiris Was den ersten Verstoß betrifft, könnte man nicht zum Beispiel in gewissen Meeren, die von fruchtbaren Gebieten eingefaßt sind, die Begrüßung des Rindertransportschiffes als Ehrenbezeigung der Seemacht vor der Landwirtschaft deuten?

Hektor Das ist in der Tat logisch. Es wäre, mit einem Wort, der Gruß des Meeres an die Erde.

Busiris Wobei noch zu berücksichtigen ist, daß eine Ladung von Rindern auch eine Ladung von Stieren sein kann. In diesem Falle würde die Ehrenbezeigung sogar an Schmeichelei grenzen.

Hektor Du hast mich verstanden. Wir sind so weit.

Busiris Die Frontalformation dagegen läßt sich ebensowohl als Entgegenkommen wie als Herausforderung auslegen. Frauen, die Kinder haben wollen, präsentieren sich von vorne und nicht von der Seite.

Hektor Ein entscheidendes Argument.

Busiris Um so mehr, als die griechischen Schiffe riesige Nymphen als Galionsfiguren tragen. Man kann sagen: die Tatsache, daß den Trojanern nicht Schiffe als Einheiten der Seefahrt, sondern Nymphen als Symbole der Fruchtbarkeit entgegenkamen, ist das gerade Gegenteil einer Beleidigung. Eine Frau, die euch nackt, mit offenen Armen entgegenzieht, ist nicht eine Drohung, sondern ein Angebot. Ein Angebot zu unterhandeln jedenfalls ...

Hektor Und so ist denn unsere Ehre intakt, Demokos. Man verkünde in der Stadt das Gutachten des Busiris, und du, Minos, lauf zum Hafenkommandanten mit dem Auftrag, Ulysses unverzüglich an Land zu bringen.

Demokos Es ist unmöglich, mit den alten Frontkämpfern über Ehrenfragen zu sprechen. Wirklich, sie mißbrauchen die Tatsache, daß man sie nicht gut Feiglinge nennen kann.

Der Geometer Halte jedenfalls die Totenrede, Hektor. Das wird dich auf Gedanken bringen ...

Hektor Es wird keine Totenrede geben.

Priamus Es ist aber der Brauch. Jeder siegreiche General muß die Totenklage auf die Gefallenen halten, wenn sich die Pforte schließt.

Hektor Die Rede auf die Gefallenen des Krieges ist ein heuchlerisches Plädoyer zugunsten der Lebenden, man will dadurch einen Freispruch erwirken. Das sind Advokatenkniffe. Ich selbst bin meiner Unschuld nicht so sicher ...

Demokos Die Heeresleitung ist nicht verantwortlich.

Hektor Ach! Alle sind es. Auch die Götter! Übrigens habe ich meine Rede an die Toten bereits gehalten. Ehe sie ihren letzten Seufzer taten, als sie ein wenig seitwärts an den Olivenbäumen des Schlachtfeldes lehnten und noch eines letzten Blickes fähig waren, ein letztes Wort noch vernehmen konnten. Ich will euch wiederholen, was ich zu ihnen gesagt habe: — zu dem Mann, dem die Eingeweide hervorquollen und die Augen schon übergingen, sagte ich: »Na, mein Lieber ... es geht ja so übel nicht. Nicht wahr?« ... — Und zu dem anderen, dem sie den Schädel entzweigespalten hatten: »Was du aber komisch aussiehst mit deiner zerschlagenen Nase!« Meinem kleinen Reitknecht, dessen linker Arm herabhing und der ausgeblutet war: »Du kannst von Glück reden, daß es nur der linke Arm ist ...« Und ich freue mich, daß ich einem jeden einen letzten Trunk aus dem Born des Lebens reichte. Mehr begehrten sie ja nicht, sie starben, indem sie diesen letzten Tropfen schlürften. Und dieser Rede werde ich kein Wort mehr hinzufügen. Schließet die Pforte.

Polyxena Ist der kleine Reitknecht auch gestorben?

Hektor Ja, Herzchen, er ist tot. Er hatte die rechte Hand aufgehoben. Jemand, der mir unsichtbar blieb, faßte ihn an seiner heilen Hand. Und er ist gestorben.

Demokos Unser General scheint Worte, an Sterbende gerichtet, und Leichenreden zu verwechseln.

Priamus Versteife dich nicht, Hektor.

Hektor Schön; gut; ich will zu ihnen sprechen! (Er tritt vor die Pforte.) — Oh, ihr, die ihr uns nicht hört, die ihr uns nicht seht, vernehmt diese Worte; seht auf diesen feierlichen Zug. Wir sind die Sieger. Das ist euch gleichgültig, nicht wahr? Auch ihr seid Sieger ... Doch wir sind die lebenden Sieger. Hier setzt der Unterschied ein und für mich ein Gefühl der Schmach. Ich weiß nicht, ob in den Reihen der Toten die siegreichen Toten Kokarden tragen. Die Lebenden, ob sie nun Sieger sind oder nicht, tragen sie alle, die wahre, die doppelte Kokarde! In Gestalt ihrer Augen. Wir haben zwei Augen, wir anderen. Wir, meine armen Freunde, wir sehen die Sonne. Wir tun alles, was man bei Sonnenlicht tun kann. Wir essen, wir trinken ... Und beim Mondlicht! ... da schlafen wir mit unseren Frauen ... Und mit den euren auch ...

Demokos Beschimpfst du gar die Toten?

Hektor Wirklich? Tu ich das?

Demokos Entweder die Toten oder die Lebenden.

Hektor Das ist ein Unterschied.

Priamus Schließe deine Rede! Die Griechen landen! ...

Hektor Ich komme zu Ende. Oh, ihr, die ihr nichts mehr fühlt, die ihr nichts faßt, atmet diesen Weihrauch ein, faßt diese Opfergaben! Als ein Feldherr, der die Wahrheit spricht, sage ich euch, daß ich nicht die gleiche Liebe, nicht die gleiche Achtung für euch alle empfinde. Seid ihr auch tot, so teilt ihr euch doch in Mutige und Feige, genau wie wir, die Überlebenden. Und ich werde nicht einer Feier zuliebe die Toten, die ich bewundere, mit den Toten, die ich nicht bewundere, vermengen. Aber was ich euch heute zu sagen habe, ist: daß der Krieg mir das törichteste und das heuchlerischeste Rezept zu sein scheint, die Menschen gleichzustellen, und daß ich den Tod weder als Strafe oder Sühne für den Feigling noch als Belohnung für die Lebenden gelten lasse. Wer ihr auch seid — Entschwundene, Wesenlose, Vergessene, ohne Tun, ohne Ruhe, ohne Sein — ich verstehe nur zu gut, daß man beim Schließen dieser Pforte die Deserteure des Todes, die Überlebenden, vor euch entschuldigen und bis ins Innerste sowohl als einen Raub wie als ein Privilegium den Besitz der beiden Güter empfinden muß, die da heißen: Wärme und Himmelslicht, deren Echo, wie ich hoffe, niemals zu euch dringt.

Polyxena Mama, die Pforte geht zu!

Hekuba Ja, Liebling.

Polyxena Es sind die Toten, die sie schieben.

Hekuba Sie helfen ein wenig nach!

Polyxena Auf dem rechten Flügel helfen sie am meisten.

Hektor Ist es so weit? Ist sie geschlossen?

Die Wache Wie ein feuerfester Schrank ...

Hektor Friede! Vater! Es ist Friede!

Hekuba Der Friede ist da!

Polyxena Man fühlt sich gleich viel wohler. Nicht wahr, Mama?

Hektor Ja? Wirklich, Liebling?

Polyxena Doch, ich fühle mich viel wohler.

(Die Militärmusik der Griechen setzt laut ein.)

Ein Bote Priamus! Die Griechen sind gelandet.

Demokos Was für eine abscheuliche Musik ist denn das? Eine höchst antitrojanische Musik ist das! Auf! Empfangen wir sie nach Gebühr.

Hektor Königlich müßt ihr sie empfangen! Und achtet wohl, daß ihnen nichts widerfährt. Ihr haftet mir dafür.

Der Geometer Jedenfalls wollen wir ihnen gleich trojanische Musik zu hören geben. Hektor wird uns doch wenigstens auf musikalischem Gebiet einige Entrüstung gestatten.

Die Menge Die Griechen! Die Griechen!

Ein Bote Ulysses steht auf der Brücke, Priamus. Wohin sollen wir ihn führen?

Priamus Hierher. Melde uns seine Ankunft im Palast ... Folge mir auch du, Paris. Es ist besser. Du hast dich vorläufig nicht zu zeigen.

Hektor Gehen wir, Vater. Wir müssen unsere Begrüßungsrede an die Griechen vorbereiten.

Demokos Bereite sie ein wenig besser vor als die Totenrede, du wirst auf mehr Widerspruch stoßen. (Priamus und seine Söhne gehen ab.) Wie, Hekuba, du gehst auch? Du gehst, ohne uns gesagt zu haben, wem der Krieg ähnlich sieht?

Hekuba Du willst es wissen?

Demokos Sag es! Wenn du wirklich weißt, wem er gleicht!

Hekuba Einem Affenarsch. Was man sieht, wenn die Äffin sich auf den Baum schwingt und uns ihr rotes, schuppiges, schillerndes Hinterteil zeigt, von schmutzigen Haaren umgeben — genau das ist der Krieg. Es ist sein Gesicht! (Sie geht ab.)

Demokos So hat er deren zwei — mit dem Helenas. (Er geht ab.)

Andromache (zu Polyxena) Da kommt sie. Weißt du noch, was du ihr sagen sollst?

Polyxena Ja ...

Andromache So geh! (Sie geht ab.)

Sechste Szene
Helena, die kleine Polyxena

Helena Du willst mich sprechen, Kleine.

Polyxena Ja, Tante Helena.

Helena Es muß etwas Wichtiges sein! Du stehst ganz steif da. Ich wette, du fühlst dich auch ganz steif?

Polyxena Ja, Tante Helena.

Helena Ist es etwas, was du mir nicht sagen kannst ... ohne dich steif zu halten?

Polyxena Nein, Tante Helena.

Helena Dann sag es schnell. Ich mag dich nicht so unerträglich steif vor mir sehen!

Polyxena Tante Helena! ... wenn du uns lieb hast ... geh fort!

Helena Warum sollte ich fortgehen, Herzchen?

Polyxena Wegen der Kriegsgefahr!

Helena Ja weißt du denn schon, was Krieg ist?

Polyxena Nicht ganz genau. Ich glaube, man stirbt dabei.

Helena Und der Tod? Weißt du auch, was das ist?

Polyxena Auch nicht ganz genau. Ich glaube, man spürt dann nichts mehr.

Helena Komm, sag mir, was dir Andromache eigentlich aufgetragen hat, von mir zu verlangen?

Polyxena Fortzugehen, wenn du uns lieb hast!

Helena Das scheint mir nicht sehr logisch. Wenn du jemanden gern hast, willst du ihn da verlassen?

Polyxena O nein! Nie! Nie!

Helena Was wäre dir lieber: Hekuba zu verlassen oder nichts mehr zu spüren?

Polyxena Oh! Nichts mehr spüren! Am liebsten möchte ich bleiben und nichts mehr spüren ...

Helena Siehst du, was du da zusammenredest! Um von euch zu gehen, müßte ich euch nicht lieben. Möchtest du lieber, daß ich euch nicht liebe?

Polyxena O nein! Ich will, daß du uns liebst!

Helena Geh! Geh! Du weißt nicht, was du sagst.

Polyxena Nein ...

Die Stimme Hekubas Polyxena!

Siebente Szene
Dieselben, Hekuba, Andromache

Hekuba Bist du taub, Polyxena? Warum machst du die Augen vor mir zu? Du willst wohl »Statue« spielen? Komm mit mir.

Helena Sie möchte lernen, nichts zu spüren! Aber da fehlt’s an Talent.

Hekuba Polyxena! Hörst du mich? Siehst du mich?

Polyxena O ja! Ich höre dich! Ich sehe dich!

Hekuba Warum weinst du? Es ist doch nur gut, wenn du mich hörst und siehst!

Polyxena Ja! ... Weil du fortgehen wirst! ...

Hekuba Helena, du wirst gefälligst Polyxena in Ruhe lassen. Sie ist zu empfindsam, um das Unempfindliche zu spüren. Und wäre es auch durch dein schönes Kleid und durch deine schöne Stimme hindurch.

Helena Sehr richtig. Und Andromache soll mir künftig selbst bestellen, was sie von mir möchte. Umarme mich, Polyxena, ich reise heute abend ab, weil dir daran liegt.

Polyxena Geh nicht. Geh nicht.

Helena Bravo! Jetzt bist du gar nicht mehr steif ...

Hekuba Kommst du, Andromache?

Andromache Nein! Ich bleibe.

(Hekuba mit der kleinen Polyxena ab.)

Achte Szene
Helena, Andromache

Helena Also — eine Aussprache?

Andromache Ich glaube, daß sie notwendig ist.

Helena Hörst du, wie die Männer allesamt schreien und streiten! Hörst du auch, wie die Fanfaren sich dreinmischen? Genügt das nicht? Müssen sich auch die Schwägerinnen aussprechen? Und worüber, da ich gehe?

Andromache Helena! Ob du gehst oder bleibst. Darum handelt es sich nicht mehr.

Helena Sag das Hektor. Du wirst ihm einen angenehmen Tag bereiten.

Andromache Ja. Hektor klammert sich an die Hoffnung deiner Abreise. Er ist wie alle Männer. Ein Hase genügt, um sie von dem Dickicht abzulenken, in welchem sich der Panther versteckt. Das Wild der Menschen läßt sich auf diese Weise jagen, nicht das der Götter!

Helena Wenn du herausgefunden hast, was die Götter in dieser ganzen Geschichte wollen, dann gratuliere ich!

Andromache Ich weiß nicht, ob die Götter etwas wollen. Aber das Weltall will etwas. Seit heute morgen scheint mir alles danach zu schreien, es zu verlangen, es zu fordern; die Menschen, die Tiere, die Pflanzen. Selbst das Kind in mir ...

Helena Was fordern sie denn?

Andromache Daß du Paris lieben sollst.

Helena Wenn du weißt, daß ich Paris nicht liebe, dann weißt du mehr als ich.

Andromache Du liebst ihn nicht! Vielleicht könntest du ihn lieben lernen. Aber augenblicklich waltet ein Mißverständnis zwischen euch.

Helena Es herrscht gute Laune, Vergnügen und Eintracht zwischen uns. Ich sehe nicht recht, wo da das Mißverständnis sein kann.

Andromache Du liebst ihn nicht. Man verträgt sich nicht in der Liebe. Das Leben von Eheleuten, die sich lieben, ist ein ewiges Ausgleiten um des Ausgleiches willen. Die Mitgift eines echten Ehepaares ist dieselbe wie die eines Talmiehepaares: die Urzwietracht. Hektor ist in allem das Gegenteil von mir. Was mir gefällt, mißfällt ihm. Wir verbringen unsere Tage damit, entweder einer den anderen zu besiegen oder uns einer dem anderen aufzuopfern. Verliebte Eheleute sehen nicht blühend aus.

Helena Du glaubst also, daß Menelaus entzückt und die Griechen begeistert wären, wenn ich mit bleifarbenem Teint, verglasten Augen und feuchten Händen zu Paris ginge?

Andromache Was die Griechen denken, wäre dann vollkommen unwichtig.

Helena Und es käme nicht zum Krieg?

Andromache Möglich, daß er wirklich vermieden würde. Wenn ihr euch liebtet, würde die Liebe vielleicht Werte ihresgleichen, die Großmut, die Klugheit und die entsprechenden Kräfte zu Hilfe rufen. Niemand, nicht einmal das Schicksal, wagt sich leichten Herzens an die Leidenschaft ... Und selbst wenn es zum Krieg käme ...

Helena Es wäre dann gewiß nicht mehr derselbe Krieg?

Andromache O nein, Helena! Du fühlst selbst, was diesem Ringen zugrunde läge. Denn das Schicksal geht um eines gewöhnlichen Kampfes willen nicht so behutsam vor. Es will die Zukunft auf ihn gründen, die unserer Rassen, unserer Völker, unserer Denkungsart. Und es will, daß unsere Idee und unsere Zukunft das Erlebnis eines Mannes und einer Frau, die sich liebten, zum Ausgangspunkte haben. Nichts Geringes wär’s. Aber es erkennt nicht, daß ihr beide weiter nichts seid als ein »offizielles Paar« ... Zu denken, daß wir leiden, sterben sollen, eines solchen Paares wegen, daß die Herrlichkeit oder das Unglück, die Denkungsart, der Charakter kommender Zeiten auf einem Zufallsabenteuer zweier Menschen beruhen wird, die sich nicht geliebt haben ... dies ist das Entsetzliche!

Helena Wenn alle Welt glaubt, daß wir uns lieben ... kommt es auf dasselbe heraus.

Andromache Niemand glaubt es. Aber niemand wird eingestehen, daß er es nicht glaubt. Beim Nahen des Krieges sondert sich ein neuartiger Schweiß von allen lebenden Wesen ab; alle Ereignisse überziehen sich mit einem neuen Lack: es ist die Lüge. Alle lügen. Unsere Greise beten keineswegs die Schönheit an. Sie beten sich selbst, sie beten das Häßliche an. Auch die Empörung der Griechen ist eine Lüge. Weiß Gott, es ist ihnen alles eins, was du mit Paris anstellst. Und die griechischen Schiffe, die bewimpelt unter den Klängen ihrer Volkshymne einfahren ... sie sind eine Lüge des Meeres. Meines Sohnes Leben aber, Hektors Leben sollen von dieser Heuchelei, diesen Trugbildern abhängen. Es ist entsetzlich!

Helena Was willst du von mir?

Andromache Ich beschwöre dich, Helena, ich halte dich fest — als ob ich dich beschwörte, mich zu lieben! Du mußt Paris lieben! Ich will aus deinem Mund hören, daß ich mich täusche, daß du dich töten würdest, wenn er sterben sollte! Daß du um den Preis seines Lebens dein Gesicht entstellen ließest! ... Dann, Helena, wird der Krieg nurmehr eine Geißel sein, aber keine Ungerechtigkeit. Und ich werde suchen, ihn zu ertragen.

Helena Liebe Andromache! Das ist alles nicht so einfach. Ich verbringe, offen gestanden, meine Nächte nicht damit, über das Los der Menschen nachzudenken. Doch schien mir immer, daß sie sich in zwei Arten teilen. In solche, die — sagen wir — Fleisch und Blut des menschlichen Lebens ausmachen. Und in solche, die die Ordnung des Lebens sind und seine Gangart. Die ersteren haben das Lachen, die Tränen und was der Absonderungen mehr sind. Die anderen haben die Gebärde, die Haltung, den Blick. Wollte man beide zu einer einzigen Art verschmelzen, so käme nichts Rechtes dabei heraus. Die Menschheit ist ihren Stars ebensoviel Dank schuldig wie ihren Märtyrern.

Andromache Helena!

Helena Übrigens bist du recht anspruchsvoll! ... Ich finde an meiner Liebe nicht so viel auszusetzen. Mir gefällt sie. Natürlich hänge ich nicht an Paris mit allen Fibern. Es geht mir nicht an die Nieren, wenn mich Paris, um Kegel zu spielen oder um Aale zu fischen, im Stiche läßt. Aber ich bin von ihm abhängig, er zieht mich magnetisch an. Der Magnetismus ist auch Liebe, so gut wie die Promiskuität. Er ist älter und ergiebiger als jene Liebe, bei der man mit verweinten Augen herumgeht und nicht voneinander lassen kann. Ich fühle mich in meiner Liebe so heimisch wie ein Stern in seiner Bahn, in ihr kreise ich, in ihr erstrahle ich, es ist meine Art, zu atmen und zu umarmen. Man kann sich die Söhne gut vorstellen, die aus einer solchen Liebe hervorgingen, große, helläugige Wesen mit klaren Umrissen, schön gegliederten Händen, kurzer Nase. Was soll aus einer Liebe wie der meinigen werden, wenn sich Eifersucht, Zärtlichkeit, seelische Erschütterung einmischten? Die Welt hat ohnedies so schlechte Nerven: Sieh dich an!

Andromache Lasse Mitleid in sie einfließen. Es ist die einzige Hilfe, deren die Welt bedarf.

Helena Das ist es. Das mußte kommen. Das Wort ist gefallen.

Andromache Was für ein Wort? ...

Helena Das Wort Mitleid! Da bin ich nicht zuständig. Für Mitleid habe ich nicht viel übrig.

Andromache Weil du das Unglück nicht kennst!

Helena Ich kenne es. Und die unglücklichen Menschen auch. Wir vertragen uns sehr gut. Als kleines Kind verbrachte ich meine Tage in den Hütten, die den Palast umgaben, mit den Fischertöchtern. Ich nahm Vögel aus den Nestern und zog sie auf. Ich stamme von einem Vogel ab, daher wohl diese Liebhaberei. Alles Elend des menschlichen Leibes, wenn es nur irgendeinen Zusammenhang mit den Vögeln hat, ist mir vertraut: der Leib des Vaters, den die Flut ans Ufer spült, starr, mit einem Kopf, der immer größer anschwillt und erzittert, denn die Möwen sind im Begriff, ihm die Augen auszupicken. Und der Leib der betrunkenen Mutter, die unserer zahmen Amsel die Federn rupft; und der der Schwester, die mit einem Matrosen im Gebüsch erwischt wird, gerade unter dem Nest der aufgescheuchten Grasmücke. Und meine Freundin mit dem Distelfink war verwachsen. Und meine Freundin mit dem Dompfaff war lungenkrank. Und trotz der Flügel, die ich der Menschheit andichtete, habe ich sie immer gesehen, wie sie wirklich ist: kriechend, schmutzig, elend. Aber niemals ist mir eingefallen, Mitleid mit ihr zu haben.

Andromache Weil du sie nur der Verachtung wert hältst.

Helena Wer weiß. Der Grund ist vielleicht, daß ich diese Unglücklichen als meinesgleichen empfinde. Daß ich sie gelten lasse. Und daß meine Gesundheit, meine Schönheit und mein Ruhm mir nicht viel höher dünken als ihre Jämmerlichkeit. Es ist vielleicht Brüderlichkeit!

Andromache Du frevelst, Helena!

Helena Die Leute haben Mitleid mit andern nur in dem Maß, wie sie Mitleid mit sich selbst hätten. Unglück oder Häßlichkeit sind Spiegel, die sie nicht vertragen. Ich aber habe mit mir nicht das geringste Mitleid. Du wirst es sehen, falls es Krieg geben sollte. Ich vertrage Hunger und Schmerz, ohne zu klagen. Besser als ihr. Und die Schmähungen. Glaubst du, ich höre nicht, was mir die Trojanerinnen zurufen, wenn ich vorübergehe? Sie sehen eine Hure in mir! Und behaupten, daß ich des Morgens trübe Augen habe. Richtig oder falsch, wie ist es mir so gleich! So gleich!

Andromache Halt ein, Helena!

Helena Glaubst du, mein farbiges Bilderbuch, wie Hektor es nennt, zeigt mir nicht manches Mal eine Helena, die alt, aus dem Leim geraten, zahnlos in ihrer Küche hockt und verzuckerte Früchte nascht! ... Oh! Wie kalkweiß meine Schminke erglänzen kann! Wie blutrot die Johannisbeere! ... Und wie farbig, wie sicher und gewiß ist das alles! ... Es ist mir völlig gleichgültig!

Andromache Ich bin verloren! ...

Helena Warum? Wenn dir ein vollkommenes Liebespaar genügt, um den Krieg gelten zu lassen, so bleibt ja das Paar Andromache-Hektor!

Neunte Szene
Helena, Andromache, Ajax, dann Hektor

Ajax Wo ist er? Wo versteckt er sich? Der Feigling! Ein echter Trojaner!

Hektor Wen sucht Ihr?

Ajax Ich suche Paris ...

Hektor Ich bin sein Bruder.

Ajax Schöne Familie! Ich bin Ajax! Und Ihr?

Hektor Man nennt mich Hektor.

Ajax Ich nenne dich Schwager einer Hure!

Hektor Ich sehe, daß uns Griechenland Unterhändler geschickt hat. Was wollt Ihr?

Ajax Den Krieg!

Hektor Nichts zu machen. Warum wollt ihr ihn?

Ajax Paris hat Helena entführt.

Hektor Sie war einverstanden, soviel ich hörte.

Ajax Eine Griechin tut, was ihr beliebt. Sie braucht euch nicht um Erlaubnis zu fragen. Das ist ein Kriegsfall.

Hektor Wir könnten uns bei euch entschuldigen.

Ajax Trojaner entschuldigen sich nicht. Wir ziehen nicht ohne eure Kriegserklärung von hier ab.

Hektor Erklärt ihn selber.

Ajax Jawohl, das werden wir tun. Noch heute abend.

Hektor Ihr lügt! Ihr werdet den Krieg nicht erklären. Weil keine der Inseln des Archipels euch Gefolgschaft leisten wird, wenn wir nicht die Angreifer sind ... Und wir greifen nicht an.

Ajax Wie? Du wirst ihn nicht erklären, und zwar in eigener Person, wenn ich dir erkläre, daß du ein Feigling bist?

Hektor Diese Art Erklärung nehme ich ruhig an.

Ajax Niemals bin ich einem solchen Mangel an militärischem Komment begegnet! ... Und wenn ich dir sage, was ganz Griechenland von Troja hält: daß Troja im Laster ersäuft? Die Dummheit selber ist? ...

Hektor Troja ist der Eigensinn selber. Der Krieg wird euch nicht bewilligt.

Ajax Und wenn ich Troja anspucke?

Hektor Spuck nur zu!

Ajax Und wenn ich dich schlage — dich, Trojas Fürsten?

Hektor Schlag zu!

Ajax Wenn ich dir, dem Symbol seines Eigendünkels, seiner falschen Ehre, ins Gesicht schlage?

Hektor Schlag zu! ...

Ajax (ohrfeigt ihn) Da! ... Wenn die Gnädige ... deine Frau ist, kann die Gnädige stolz sein.

Hektor (der unbewegt geblieben ist) Ich kenne sie ... Sie ist stolz.

Zehnte Szene
Dieselben, Demokos

Demokos Was geht hier vor? Was will dieser Trunkenbold, Hektor?

Hektor Er will nichts mehr: er hat, was er wollte.

Demokos Andromache, was ist geschehen?

Andromache Nichts.

Ajax Zweimal nichts! Ein Grieche gibt Hektor eine Ohrfeige. Und Hektor steckt sie ein.

Demokos Ist es wahr, Hektor?

Hektor Rein erfunden. Nicht wahr, Helena?

Helena Die Griechen verstehen sich sehr gut aufs Lügen. Die griechischen Männer, heißt das.

Ajax Hat er immer eine Wange röter als die andere?

Hektor Ja. Diese Wange ist die gesündere!

Demokos Hektor! Sage die Wahrheit. Hat er gewagt, die Hand gegen dich zu erheben?

Hektor Das ist meine Sache!

Demokos Es ist Kriegssache. Du bist für uns das Standbild Trojas.

Hektor Ebendeshalb: Standbilder ohrfeigt man nicht.

Demokos (zu Ajax) Wer bist du — du Vieh! Ich bin Demokos, der zweite Sohn des Achichaos!

Ajax Zweiter Sohn des Achichaos? Sehr angenehm! Sag mir: ist es ebenso gravierend, den zweiten Sohn des Achichaos zu ohrfeigen, wie Hektor zu ohrfeigen?

Demokos Genauso! Du Trunkenbold! Ich bin Präsident des Senates. Wenn du den Krieg willst, Krieg bis zum äußersten, dann komm nur her.

Ajax Gut! ... Ich probier’s. (Er ohrfeigt Demokos.)

Demokos Trojaner! Soldaten! Zu Hilfe!

Hektor Schweig, Demokos!

Demokos Zu den Waffen! Man greift Trojas Ehre an! Rache!

Hektor Du sollst still sein, hab ich dir gesagt.

Demokos Schreien werde ich! ... die Stadt in Aufruhr bringen!

Hektor Schweig ... Oder ich ohrfeige dich!

Demokos Priamus! Anchises! Herbei! Kommt Trojas Schande sehen. Hektors Gesicht trägt ihr Merkmal.

Hektor Idiot!

(Hektor ohrfeigt Demokos. Ajax bricht in grölendes Lachen aus.)

Elfte Szene

Priamus und die Senatoren stellen sich gegenüber der Kulisse auf, von der aus Ulysses später auf die Bühne treten wird.

Priamus Demokos! Was soll dies Geschrei?

Demokos Man hat mich geohrfeigt.

Ajax Geh, beschwere dich bei Achichaos!

Priamus Wer hat dich geohrfeigt?

Demokos Hektor! Ajax! Hektor! Ajax!

Paris Was faselt er? Er ist verrückt!

Hektor Niemand hat ihn geohrfeigt. Nicht wahr, Helena?

Helena Ich habe doch achtgegeben. Aber ich habe nichts gesehen.

Ajax Es ist kein Unterschied in der Farbe seiner Wangen.

Paris Dichter sind oft ganz grundlos aufgeregt. Sie nennen das: in Trance geraten. Gleich wird unsere Volkshymne daraus entstehen.

Demokos Das sollst du mir büßen, Hektor.

Stimmen aus dem Volk Ulysses! ... Ulysses naht! ...

(Ajax geht herzlich auf Hektor zu.)

Ajax Bravo! Sehr flott, edler Gegner! Schöne Ohrfeige! ...

Hektor So gut ich es konnte.

Ajax Auch die Methode ausgezeichnet. Steifer Ellenbogen, das Handgelenk schräg gestellt. Beste Stütze für die erhobene Hand. Diese Ohrfeige muß bedeutend stärker sein als meine.

Hektor Das bezweifle ich.

Ajax Dein Speerwurf muß fabelhaft weit tragen?

Hektor Siebzig Meter weit!

Ajax Respekt! Mein lieber Hektor, entschuldige mich. Ich ziehe meine Drohungen zurück. Ich ziehe meine Ohrfeige zurück. Wir haben gemeinsame Feinde: es sind die Söhne des Achichaos. Und ich schlage mich nicht gegen die, welche mit mir die Söhne des Achichaos zu Feinden haben. Sprechen wir nicht mehr vom Krieg. Ich weiß nicht, was Ulysses im Schilde führt. Aber verlaß dich auf mich, ich lege die Sache bei ... (Er geht ab, Ulysses entgegen, mit dem er dann wiederkehrt.)

Andromache Ich liebe dich, Hektor!

Hektor (auf seine Wange weisend) Ja. Aber küsse mich noch nicht gleich, willst du?

Andromache Auch diese Schlacht hast du gewonnen. Alles wird gut werden.

Hektor Ich gewinne jede Schlacht. Aber bei jedem Sieg geht der Einsatz flöten.

Zwölfte Szene
Dieselben, Hekuba, Trojaner, Trojanerinnen, der Marsgast, Olpides, Ulysses, Ajax und ihr Gefolge, Iris.

Ulysses Ich grüße wohl Priamus und Hektor?

Priamus Wir sind es. Und hinter uns liegt Troja — Trojas Vorstädte, Trojas Ländereien und der Hellespont und dann Phrygien wie eine geschlossene Faust. — Ihr seid Ulysses?

Ulysses Ich bin es.

Priamus Das hier ist Anchises. Und hinter ihm ist Thrazien, Pontus und Tauris, gleich einer geöffneten Hand!

Ulysses Reichlich viel Zuhörer für einen diplomatischen Gedankenaustausch.

Priamus Und hier ist Helena!

Ulysses Guten Tag, Königin!

Helena Ich habe mich hier verjüngt, Ulysses. Ich bin nur mehr Prinzessin.

Priamus Wir sind bereit, euch anzuhören.

Ajax Ulysses, rede du mit Paris. Ich will mit Hektor sprechen.

Ulysses Priamus, wir sind hier, um Helena zurückzuholen.

Ajax Du verstehst, Hektor, nicht wahr? Dergleichen geht nicht so ohne weiteres an.

Ulysses Griechenland und Menelaus schreien nach Rache. Nicht wahr, Hektor?

Ajax Wenn betrogene Ehemänner nicht nach Rache schreien würden, was bliebe ihnen denn? Er hat recht. Nicht wahr, Hektor?

Ulysses Helena muß uns zur Stunde zurückgegeben werden. Oder es ist Krieg.

Ajax Wenn wir sagen: »Zur Stunde«, Hektor, so ist das nicht wörtlich gemeint. In zwei, in drei Stunden! Man muß doch Abschied nehmen.

Hektor Ist das alles?

Ulysses Alles!

Ajax Du siehst, Hektor, wir fassen uns kurz!

Hektor Wenn wir euch also Helena zurückgeben, sichert ihr uns den Frieden zu?

Ajax Und Ruhe.

Hektor Wenn sie sich unverzüglich einschifft, ist der Konflikt aus der Welt geschafft?

Ajax Erledigt!

Hektor Ich glaube, wir werden uns einigen können. Nicht wahr, Helena?

Helena Ja. Ich glaube es.

Ulysses Wie? Soll das heißen, daß uns Helena zurückgegeben wird?

Hektor Gewiß. Sie ist bereit.

Ajax Sie wird jedenfalls bei der Rückkehr mehr Gepäck haben als bei der Abreise.

Hektor Wir geben sie euch zurück. Und ihr garantiert den Frieden. Keine Repressalien mehr! Kein Rachezug!

Ajax Eine Frau verloren — eine Frau wiedergefunden! Und noch dazu dieselbe. Ausgezeichnet! Was meinst du, Ulysses?

Ulysses Ich muß bitten. Ich garantiere nichts! Um auf alle Repressalien zu verzichten, müßte jeder Grund zu Repressalien wegfallen. Das heißt: Menelaus müßte Helena in dem gleichen Zustand zurückerhalten, in welchem sie sich befand, als sie entführt wurde.

Hektor Und wie will er das feststellen?

Ulysses Ein Gatte, der im Mittelpunkt eines Weltskandals steht, ist scharfsinnig. Die Frage ist: ob Paris Helena verführt hat? Und die Frage muß bejaht werden.

Das Volk Freilich muß sie bejaht werden.

Eine Stimme Nicht, was man sonst »verführen« nennt!

Hektor Und wenn es der Fall wäre?

Ulysses Wo willst du hinaus, Hektor?

Hektor Paris hat Helena nicht berührt. Beide haben es mir anvertraut.

Ulysses Was ist das für eine Geschichte?

Hektor Eine wahre Geschichte. Nicht wahr, Helena?

Helena Was wäre so Merkwürdiges daran?

Eine Stimme Entsetzlich! Wir sind entehrt.

Hektor Warum lächelt Ulysses? Ist an Helena etwas wahrzunehmen, was ihre Untreue verrät?

Ulysses Ich suche nicht. Das Wasser läßt an einer Ente mehr Spuren zurück als die Besitznahme an einer Frau!

Paris Du sprichst von einer Königin.

Ulysses Königinnen ausgenommen, natürlich! ... Paris, Ihr habt also diese Königin entführt und nackt entführt. Ihr selber, nehme ich an, badet auch nicht gepanzert und bewaffnet. Und bei all dem solltet Ihr Helena nicht begehrt haben?

Paris Eine nackte Königin ist mit ihrer Würde bekleidet.

Helena Sie braucht sie nur nicht abzulegen.

Ulysses Wie lange hat die Reise gedauert? Ich habe mit meinen Schiffen drei Tage gebraucht, und sie sind schneller als die euren.

Eine Stimme Was sind das für unerträgliche Beschimpfungen der trojanischen Marine?

Eine andere Stimme Nicht eure Schiffe sind schneller! Höchstens eure Winde an eurer Küste geschwinder!

Ulysses Sagen wir: drei Tage, wenn ihr wollt! Wo hielt sich während dieser drei Tage die Königin auf?

Paris Sie lag an Deck ausgestreckt.

Ulysses Und Paris? Der hat wohl im Mastkorb gesessen?

Helena Er lag ausgestreckt an meiner Seite.

Ulysses Er las an Ihrer Seite vermutlich. Oder fischte er?

Helena Ab und zu fächelte er mich.

Ulysses Ohne Euch je zu berühren? ...

Helena Am zweiten Tag hat er mir die Hand geküßt.

Ulysses Die Hand! ... Aha. Die Bestie, die sich regt.

Helena Ich hielt es für würdiger, es nicht zu bemerken.

Ulysses Hat euch das Schlingern des Schiffes nicht einander nähergebracht? ... Daß Schiffe schlingern, wird man ja noch sagen dürfen, ohne die trojanische Marine zu beleidigen ...

Eine Stimme Unsere Schiffe schlingern weniger, als die griechischen stampfen.

Ajax Was? Wenn es aussieht, als ob sie zu tief ins Wasser gingen, dann nur, weil das Heck so hoch steht!

Eine Stimme Ja! Natürlich. Das Gesicht arrogant und der Hintern servil. Echt griechisch ...

Ulysses Und die drei Nächte? Über euch schimmerten und schwanden dreimal die Sterne, Helena, ist Ihnen nichts mehr von diesen drei Nächten gewärtig?

Helena Doch, doch. Beinahe Hätte ich vergessen. Eine viel genauere Kenntnis der Sternbilder.

Ulysses Vielleicht hat er Euch, während Ihr schlieft ... besessen?

Helena Mich weckt eine Mücke auf ...

Hektor Beschwört dies beide auf eure Göttin Aphrodite!

Ulysses Das verlange ich nicht! Aphrodite kenne ich! Ihr Lieblingsschwur ist der Meineid ... Eine seltsame Geschichte ist das aber! Sie wird im ganzen Archipel die Vorstellung zunichte machen, die man von den Trojanern besaß.

Paris Und was dachte man im Archipel von den Trojanern?

Ulysses Daß sie für den Handel weniger begabt sind als wir; aber daß sie schön und unwiderstehlich sind. Nun aber weiter, Paris. Diese Geständnisse sind interessante Beiträge zur Physiologie. Was hat Euch veranlaßt, so respektvoll mit Helena umzugehen? Da Ihr sie doch wehrlos vor Euch hattet? ...

Paris Ich ... ich liebte sie.

Helena Ulysses, wenn Ihr nicht wißt, was Liebe ist, dann laßt lieber ab von solchem Thema.

Ulysses Gestehen Sie aber, Helena, daß Sie nicht mit Paris durchgegangen wären, wenn Sie gewußt hätten, daß die Trojaner impotent sind ...

Eine Stimme Oh, der Schande!

Eine andere Stimme Knebelt ihn!

Eine Stimme Bring deine Frau her! Und du wirst ja sehen.

Eine andere Stimme Und deine Großmutter!

Ulysses Ich habe mich nicht richtig ausgedrückt: Paris, der schöne Paris, war impotent ...

Eine Stimme Paris, läßt du dir das gefallen? Willst du uns zum Gespött der Welt machen?

Paris Hektor! Du siehst, wie unangenehm meine Lage ist!

Hektor Nur noch eine Minute Geduld ... Lebt wohl, Helena! Möge Eure Tugend ebenso sprichwörtlich werden, wie Eure Leichtfertigkeit es hätte werden können ...

Helena Ich mache mir keine Sorge. Die Jahrhunderte lassen uns immer Gerechtigkeit widerfahren.

Ulysses Paris der Impotente! Ein hübscher Spitzname!... Daraufhin dürfen Sie ihn umarmen, Helena.

Paris Hektor!

Marsgast Werdet Ihr diese Komödie noch lange dulden, Kommandant?

Hektor Schweig! Ich bin es, der hier befiehlt!

Marsgast Ihr befehlt schlecht. Wir, die Seeleute des Paris, dulden dies nicht länger. Ich will erzählen, wie er es mit eurer Königin trieb! ...

Stimmen Bravo! Erzähle!

Marsgast Paris opfert sich auf Befehl seines Bruders. Ich war Deckoffizier. Ich habe alles gesehen.

Hektor Du hast nicht richtig gesehen!

Marsgast Als ob ein trojanischer Seemann kurzsichtig sein könnte! Ich sehe einer Möwe auf dreißig Schritte an, ob sie einäugig ist. Olpides, komm her zu mir! — Er hat nämlich im Mastkorb gesessen. Er hat alles von oben gesehen. Ich aber habe auf der Stiege gestanden, die in den Schiffsraum führt. Mein Kopf reichte gerade bis zum Deck ... Soll ich reden, Trojaner?

Hektor Du schweigst.

Stimmen Nein, sprechen! Er soll sprechen!

Marsgast Sie waren kaum zwei Minuten an Bord, nicht wahr ... Olpides?

Olpides Gerade nur lang genug, um die Königin abzutrocknen und ihr den Scheitel zu ziehen. Ihr könnt euch vorstellen, wie gut ich von oben den Scheitel der Königin gesehen habe. Von der Stirne bis zum Nacken!

Marsgast Und er hat alle in den Schiffsraum hinuntergeschickt. Uns zwei ausgenommen, die er nicht gesehen hatte ...

Olpides Das Schiff trieb nordwärts. Es war windstill. Die Segel hingen schlaff herab ...

Marsgast Und von meinem Versteck aus, von wo ich gerade nur die Form eines einzigen Körpers hätte sehen sollen, sah ich deren zwei. Zwei Scheiben Brot übereinander. Die eine von Roggen, die andere von Weizen ... Brote, die im Ofen buken und aufgingen: ein richtiges Backen war’s.

Olpides Und ich von oben herab habe oft nur einen einzigen Körper gesehen statt zwei. Bald weiß, wie der Marsgast sagt, bald goldbraun. Mit vier Armen und vier Beinen ...

Marsgast So viel für die Impotenz! Was nun die andere Liebe betrifft — die moralische, die Herzensliebe, sag, was du oben in deinem Korb gehört hast! Die Worte der Frauen steigen, die der Männer gehen in die Breite. Ich werde sagen, was Paris sagte ...

Olpides Sie hat ihn ihre Papageiin, ihre Kätzin genannt.

Marsgast Er sie seinen Puma, seinen Jaguar. Sie invertierten die Geschlechter. Das ist Zärtlichkeit. Bekannte Sache.

Olpides »Du bist meine Buche«, sagte sie auch. »Ich umfasse dich wie eine Buche« ... Je nun, auf einer Seefahrt denkt man gern an Bäume.

Marsgast »Und du meine weiße Birke ... meine Zitterbirke«, sagte er. Ich habe mir das Wort genau gemerkt. Es ist ein russischer Baum.

Olpides Die ganze Nacht mußte ich im Mastkorb sitzen. Da bekommt man einen gehörigen Hunger und Durst. Und das andere.

Marsgast Und als sie sich nicht mehr umschlungen hielten, fuhren sie sich mit der Zunge über das Gesicht, weil sie sich salzig fanden.

Olpides Und als sie sich erhoben, um endlich schlafen zu gehen, da schwankten sie ...

Marsgast Und so wäre es deiner Penelope ergangen, mit diesem Impotenten!

Stimmen Bravo! Bravo!

Eine Frauenstimme Heil Paris!

Ein Witzbold Geben wir Paris, was des Paris ist.

Hektor Sie lügen! Nicht wahr, Helena?

Ulysses Helena hört ihnen mit Wohlgefallen zu.

Helena Weil ich ganz vergessen habe, daß sie von mir sprechen. Diese Leute sind von ihrem Thema durchdrungen.

Ulysses Nun, Paris, wirst du am Ende gar behaupten, daß sie lügen?

Paris In den Einzelheiten haben sie manches übertrieben.

Marsgast Weder im großen noch im kleinen, nicht wahr, Olpides? Sie bestreiten die Kosenamen, Kommandant? Sie bestreiten das Wort »Puma«?

Paris Nicht ausdrücklich das Wort »Puma«.

Marsgast Das Wort »Birke« dann? Ich sehe. Es ist das Wort »Zitterbirke«, an dem Sie Anstoß nehmen. Gesagt haben Sie’s aber. Ich schwöre, daß Sie es gesagt haben. Und übrigens ist nichts Beschämendes an dem Wort Birke. Genug wehende Birken habe ich gesehen, um die Winterzeit, dem Kaspischen Meer entlang, und auf dem Schnee. Mit ihren Reifen aus schwarzer Rinde, die getrennt schienen durch die Leere, daß man sich fragte, woran die Äste sich hielten. Und auch im Hochsommer, in der Stromenge von Astrachan habe ich welche gesehen mit ihren weißen Reifen, wie die der eßbaren Pilze, hart am Wasser, aber ebenso hoch sich haltend, wie die Weide herunterhängt. Und wenn einer von den dicken Raben, schwarz oder grau, drauf hockt, zittert der ganze Baum, zittert, als ob er bräche, und ich warf ihm Steine zu, bis er davonflog, und alle Blätter sprachen dann zu mir und machten mir Zeichen. Und sie also zittern zu sehen, nach oben golden und silbern nach innen, ei, da wird einem so zärtlich ums Herz. Schier, daß ich da geweint hätte, nicht wahr, Olpides? Und so ist die Birke!

Die Menge Bravo! Bravo!

Ein anderer Matrose Nicht nur Olpides und der Marsgast haben die beiden gesehen, Priamus. Vom letzten Schiffsjungen bis zum Ersten Offizier sind wir alle durch die Luken gekrochen, und alle, an den Rumpf des Schiffes geklammert, schauten wir über die Reling. Das ganze Schiff war ein einziges Auge.

Ein dritter Matrose Um die Liebesszene anzuschauen.

Ulysses So steht es, Hektor!

Hektor Schweigt! Alle!

Marsgast (erblickt Iris) Sag der da oben, daß sie schweigen soll.

Das Volk Iris! Iris!

Paris Schickt dich Aphrodite?

Iris (erscheint) Ja, Aphrodite gibt euch durch mich kund, daß die Liebe die Welt regiert. Daß alles, was um die Liebe kreist, ob es auch Lüge ist, Geiz oder Wollust, geheiligt ist; daß sie jeden Liebenden unter ihren Schutz nimmt, vom König bis zum Hirten, und auch den Kuppler. Ich sage ausdrücklich: Kuppler! Wenn einer von ihnen hier unter euch weilt, sei er gegrüßt! Und Aphrodite verbietet euch beiden, dir, Hektor, und dir, Ulysses, Paris von Helena zu trennen. Widrigenfalls es Krieg gibt.

Paris und die Greise Danke, Iris!

Hektor Und von Pallas keine Botschaft?

Iris Ja, Pallas trägt mir auf, euch zu sagen, daß die Vernunft regiert. Jeder Verliebte, läßt sie euch sagen, ist unvernünftig. Sie verlangt, ihr sollt sagen, ob es etwas Dümmeres gibt als den Hahn auf der Henne oder die Fliege auf der Fliege. Mehr will sie nicht darüber sagen. Und sie befiehlt dir, Hektor, und dir, Ulysses, Helena von diesem geschniegelten Paris zu trennen. Widrigenfalls es Krieg geben wird ...

Hektor und die Frauen Danke, Iris!

Priamus Mein Sohn, es ist weder Aphrodite noch Pallas, die die Welt regiert. Was befiehlt uns Zeus in dieser Unsicherheit?

Iris Zeus, der Herrscher über alle Götter, läßt euch sagen, daß die, welche überall in der Welt nur die Liebe sehen, ebenso dumm sind wie die, welche sie nicht sehen. Die wahre Weisheit, läßt Zeus, der Herr über alle Götter, euch sagen, ist bald die Liebe, bald die Keuschheit. Darum verläßt er sich auf Hektor und auf Ulysses, daß man Helena von Paris trennt, ohne sie dabei zu trennen. Er befiehlt allen anderen, sich zu entfernen und die Unterhändler allein zu lassen. Und diese haben es fertigzubringen, daß der Krieg vermieden wird. Oder aber: er schwört es euch — und er hat noch niemals eine leere Drohung ausgesprochen — daß es Krieg geben wird.

Hektor Ich stehe Euch zur Verfügung, Ulysses.

Ulysses Ich stehe zur Verfügung, Hektor.

(Alle ziehen sich zurück. Eine große Schärpe wird am Himmel sichtbar.)

Helena Sie hat ihre Schärpe unterwegs verloren. Das sieht ihr ähnlich.

Dreizehnte Szene
Ulysses, Hektor

Hektor Und nun beginnt der eigentliche Kampf, Ulysses.

Ulysses Der Kampf, aus dem der Krieg hervorgehen oder nicht hervorgehen wird.

Hektor Wird es der Krieg sein?

Ulysses Wir werden es in fünf Minuten wissen.

Hektor Wenn es ein Wortkampf ist, habe ich geringe Aussichten.

Ulysses Eher ein Kampf der Gewichte, glaube ich. Es sieht wirklich so aus, als ob ein jeder von uns auf einer Waagschale stände. Das Gewicht entscheidet ...

Hektor Mein Gewicht? Was ich wiege, Ulysses? Ich wiege, was ein junger Mann wiegt, eine junge Frau, ein werdendes Kind. Ich wiege, was die Freude am Leben wiegt, der Glaube an das Leben, der Aufschwung zu allem, was recht und natürlich ist.

Ulysses Was ich wiege, ist der gereifte Mann, die Frau von dreißig Jahren, der Sohn, dessen Wachstum ich jeden Monat in den Türpfosten unseres Palastes einkerbe ... Mein Schwiegervater sagt, daß ich die schöne Arbeit des Kunsttischlers ruiniere ... Ich wiege die Wollust zu leben und das Mißtrauen gegen Leben.

Hektor Ich wiege, was die Jagd, der Mut, die Liebe, die Treue wiegt.

Ulysses Und ich — was die Vorsicht gegenüber den Göttern, den Menschen, den Dingen wiegt.

Hektor In meine Waagschale kommt noch die phrygische Eiche, alle phrygischen, dichtbelaubten und stämmigen Eichen, die auf unseren Hügeln verstreut sind, mit unseren struppigen Rindern.

Ulysses In die meine — der Olivenbaum!

Hektor In die meine der Falke! Ich kann geraden Blickes in die Sonne sehen.

Ulysses In die meine die Eule!

Hektor Ich wiege, was ein ganzes Volk gutmütiger Bauern, emsiger Handwerker wiegt, Tausende von Pflügen, Webstühlen, Schmiedestätten ... Oh! Warum erscheinen mir plötzlich vor Euch all diese Gewichte so leicht?

Ulysses Ich wiege, was jene unverderbliche und unerbittliche Luft unseres Archipels und unserer Küste wiegt.

Hektor Wozu noch mehr? Die Schale neigt sich.

Ulysses Auf meine Seite? Ja ... ich glaube es.

Hektor Und Ihr wollt den Krieg?

Ulysses Ich will ihn nicht. Seiner eigenen Absichten aber bin ich nicht so sicher.

Hektor Unsere Völker haben uns beide hierher beschieden, ihn abzuwenden. Unsere Begegnung allein ist schon der Beweis, daß nicht alles verloren ist ...

Ulysses Ihr seid jung, Hektor ... Am Vorabend eines Krieges pflegen zwei führende Staatsmänner von zwei im Streit befindlichen Völkern allein in einem harmlosen Dorf, auf einer Terrasse am Ufer eines Sees oder in der Ecke eines Gartens zusammenzutreffen. Ab und zu weht eine leichte Brise. Und sie sind einer Meinung, daß der Krieg die ärgste Geißel der Welt ist. Und beide, während sie die Reflexe auf den Fluten betrachten, während Magnolienblätter auf ihre Schultern fallen, sind friedlich, bescheiden, loyal. Sie beobachten einander. Sie sehen sich an. Von der Sonne durchwärmt, von dem hellen Landwein weich gestimmt, entdeckt keiner in dem Gesicht vor ihm einen einzigen Zug, der hassenswert, einen einzigen, der nicht liebenswert wäre! Nichts Unverträgliches in ihren Sprachen, in ihrer Art, sich die Nase zu reiben oder zu trinken. Und sie sind vom Frieden wie von Friedenswünschen wirklich erfüllt ... Sie scheiden mit einem Händedruck und fühlen sich als Brüder. In ihren Wagen noch drehen sie sich um, um sich anzulächeln ... Und am nächsten Tag bricht dennoch der Krieg aus ... So steht es auch jetzt mit uns beiden! ... Unsere Völker, die im Hintergrunde unserer Entschließungen harren, schweigen und stehen abseits, aber es ist nicht ein Sieg über das Unabwendbare, was sie von uns erwarten. Sie haben uns die Vollmacht gegeben und uns allein gelassen, damit wir über die Katastrophe hinweg der Brüderlichkeit unseres Feindes desto besser innewerden. Genießen wir sie. Sie ist ein Gericht für Feinschmecker. Kosten wir es aus ... Das ist aber auch alles. Es ist das Privilegium der Großen, die Katastrophen von einer Terrasse aus zu überblicken.

Hektor Ist es ein Gespräch von Feinden, das wir da führen?

Ulysses Es ist ein Duett vor dem Einsatz des Orchesters! Das Duett der Solisten, ehe der Krieg ausbricht. Weil wir von Natur vernünftig, gerecht und höflich sind, sprechen wir miteinander eine Stunde vor dem Kriege, wie wir es lange nach dem Krieg als einstige Frontkämpfer tun werden. Vor der Schlacht selber versöhnen wir uns. Es ist immerhin etwas. Mag sein, daß wir unrecht haben. Wenn einer von uns den anderen eines Tages töten und ihm dann das Visier vom Gesicht reißen wird, um sein Opfer zu erkennen, mag sein, es wäre besser, er würde nicht in das Gesicht eines Bruders blicken ... Doch das Weltall weiß: wir werden uns schlagen.

Hektor Es kann sich irren. Man erkennt den Irrtum daran, daß alle Welt ihn teilt.

Ulysses Hoffen wir’s. Wenn sich aber das Schicksal seit Jahren zwei Völker ausersah, wenn es beiden dieselbe Anwartschaft auf erfinderischen Geist und auf Vorherrschaft eröffnete, wenn es, wie vorhin, uns beiden auf der Waagschale kostbare Gewichte, die aber völlig verschieden wiegen, zuerteilte, um die Freude, das Gewissen und die Natur selbst zu werten, wenn es dem einen wie dem anderen durch seine Architekten, Dichter, Maler ein Königreich von Inhalten, Tönen und Nuancen geschenkt hat, das dem anderen völlig entgegengesetzt ist, wenn er sie das trojanische Balkendach und das thebanische Gewölbe, das phrygische Recht, das griechische Indigo erfinden ließ, so weiß das Weltall wohl, daß es hiemit den Menschen nicht zweierlei Farben und Entwicklungsarten zudachte, sondern sich sein Festspiel vorbehielt: das der Entfesselung jener Hoheit, jenes menschlichen Irrsinns, aus der allein die Götter Zuversicht schöpfen. Es ist kleinliche Politik, zugegeben, wir aber sind leitende Staatsmänner. Wir können es unter uns wohl sagen: es ist gemeinhin die Politik des Schicksals.

Hektor Und Troja und Griechenland hat es sich diesmal ausersehen?

Ulysses Heute früh habe ich noch daran gezweifelt. Seitdem ich aber den Fuß auf euren Boden gesetzt habe, bin ich dessen gewiß.

Hektor Fühltet Ihr Euch in Feindesland?

Ulysses Warum immer auf das Wort »Feind« zurückkommen? Muß es Euch nochmals gesagt werden: nicht die wirklichen Feinde bekriegen sich. Es gibt Völker, die von der Natur dazu geschaffen sind, übereinander herzufallen: durch ihre Haut, ihre Sprache, ihre Gerüche. Sie beneiden, sie hassen einander, sie können sich nicht ausstehen ... Die aber schlagen sich nie. Schlagen werden sich die, welche das Schicksal für ein und denselben Kampf geschult und ausgestattet hat: die werden dann zu Gegnern.

Hektor So wären wir reif für den griechischen Krieg?

Ulysses Bis zu einem unheimlichen Grade. Wie die Insekten von der Natur, die ihren Kampf voraussieht, mit Angriffs- und Abwehrwaffen versehen werden, so haben auch wir uns im voraus, ohne uns zu kennen, ohne es zu ahnen, zur Bereitschaft für unseren Krieg erzogen. Bis zu den geringsten Einzelheiten. Alles an unseren Waffen und unseren Gewohnheiten greift ineinander wie Zahnräder an einer Maschine. Und eure Frauen, eure Töchter sind die einzigen, deren Blick, deren Hautfarbe in uns weder Wildheit noch Begehren erweckt, sondern jene Bangigkeit des Herzens, jene schmerzliche Freude, die der Horizont des Krieges sind. Die Gesimse eurer Dächer mit ihrer dunkeln und feuerfarbenen Untermalung, das Gewieher eurer Pferde, die Gewänder eurer Frauen, die hinter Säulen verschwinden: das Schicksal hat bei euch alles in eine Gewitterfärbung getaucht, in deren Schein ich zum ersten Male die Zukunft sich gestalten sehe. Es ist nichts zu machen! Ihr steht im Zeichen des griechischen Krieges.

Hektor Und es denken auch die anderen Griechen wie Ihr?

Ulysses Was sie denken, ist nicht weniger beunruhigend. Was die anderen Griechen denken, ist, daß Troja reich ist, seine Speicher strotzend, seine Ländereien fruchtbar sind. Sie denken, daß sie selbst auf ihren Felsen in der Enge leben. Das Gold eurer Tempel, eures Kornes, eures Rapses hat jedem unserer Schiffe von euren Vorgebirgen her ein Zeichen gegeben, das unsere Leute nicht vergessen können. Es ist unvorsichtig von euch, allzu goldene Götter und Gemüse zu haben.

Hektor Endlich ein offenes Wort ... Griechenland hat uns zu seiner Beute erkoren. Wozu da noch eine Kriegserklärung? Es wäre einfacher gewesen, meine Abwesenheit zu nützen und Troja zu überfallen. Es wäre euch ohne Schwertstreich in die Hände gefallen.

Ulysses Um den Krieg zu fördern, bedarf es einer gewissen allgemeinen Geneigtheit, die von der entsprechenden Atmosphäre, Akustik und einer jeweiligen Stimmung in der Welt abhängt ... Einen Krieg zu unternehmen ohne diese Voraussetzung, wäre Wahnsinn. Wir hatten sie nicht.

Hektor Und jetzt habt ihr sie?

Ulysses Ich glaube — ja.

Hektor Wer in der Welt ist so stark gegen uns eingenommen? Troja wird seiner Humanität, seines Gerechtigkeitssinnes, seiner Künste wegen gerühmt.

Ulysses Nicht durch Verbrechen gelangt ein Volk seinem Schicksal gegenüber in eine schiefe Lage, sondern durch seine Fehler. Seine Armee ist mächtig, seine Kassen sind gefüllt, seine Dichter in voller Tätigkeit. Eines Tages aber — wer weiß warum — weil seine Bürger böswillig Wälder abholzen, sein Fürst garstig eine Frau entführt, seine Kinder dumme Streiche machen, eines Tages ist es verloren. Die Nationen so gut wie die Menschen gehen an unmerklichen Verstößen zugrunde. Die Art zu niesen oder die Absätze schief zu treten ist es, woran die verurteilten Völker einander erkennen ... Wahrscheinlich habt ihr Helena auf die unrichtige Weise entführt ...

Hektor Könnt Ihr ein Verhältnis sehen zwischen der Entführung einer Frau und dem Krieg, in dem eines unserer Völker untergehen muß? ...

Ulysses Wir sprechen von Helena. Paris, und auch Ihr, Hektor, beurteilt Helena falsch. Seit fünfzehn Jahren kenne und beobachte ich sie. Helena, darüber kann kein Zweifel bestehen, ist eines jener seltsamen Wesen, welche das Schicksal für seine besonderen Zwecke auf Erden in Umlauf setzt. Sie stellen nicht viel vor. Manches Mal ist es ein Marktflecken, beinahe ein Dorf, eine kleine Königin, beinahe ein kleines Mädchen. Aber wenn Ihr es anrührt, nehmt Euch in acht! Darin liegt die Schwierigkeit des Lebens, daß man unter den Menschen und Dingen die Schicksalsträchtigen erkennen muß. Ihr habt es nicht getan. Ihr hättet ungestraft an unsere großen Admirale, unsere Könige rühren können. Paris hätte sich zwanzigmal gefahrlos in den Betten Spartas und Thebens herumtreiben können. Aber nein! Er hat sich den schwächsten Verstand, das starrste Herz, den engsten Schoß ausgesucht ... Ihr seid verloren.

Hektor Wir geben euch Helena zurück.

Ulysses Der Frevel am Schicksal wird durch die Rückgabe nicht gesühnt.

Hektor Wozu dann noch verhandeln? Ich sehe endlich die Wahrheit hinter Euren Worten. Gesteht! Ihr wollt unsere Schätze! Ihr ließet Helena entführen, um einen einwandfreien Vorwand für den Krieg zu haben. Ich schäme mich für Griechenland! Auf ewig wird es die Schmach und die Verantwortung dafür tragen.

Ulysses Die Schmach und die Verantwortung? Glaubt Ihr? Die zwei Worte vertragen sich nicht. Wenn wir tatsächlich für den Krieg verantwortlich wären, so brauchte unsere jetzige Generation es nur abzuleugnen. Damit wäre allen unseren kommenden Generationen der gute Glauben und ein gutes Gewissen gesichert. Wir werden leugnen. Wir werden uns opfern.

Hektor Die Entscheidung ist also gefallen, Ulysses! So sei denn Krieg! Übrigens je mehr ich ihn hasse, desto stärker wächst in mir ein unwiderstehlicher Drang zu töten ... Verlaßt Troja, da Ihr nicht zu mir steht ...

Ulysses Begreift doch, Hektor ... Ich stehe zu Euch. Verargt es mir nicht, daß ich das Schicksal deute. Ich wollte nur in jenen großen Linien lesen, die die Straßen der Karawanen, die Wege der Schiffe, der Zug der Kraniche und der Rassen in das Bild der Welt eintragen. Gebt mir Eure Hand. Auch sie hat ihre Linien. Aber forschen wir wir nicht, ob sie das gleiche aussagen. Nehmen wir an, daß die drei kleinen Zeichen in Hektors Handfläche das Gegenteil von dem besagen, was die Flüsse, die Flüge und die Furchen des Kielwassers künden. Ich bin neugierig von Natur und kenne keine Furcht. Ich will gern dem Schicksal entgegenhandeln. Gebt mir Helena. Ich werde sie zu Menelaus zurückführen. Ich verfüge über viel mehr Beredsamkeit, als nötig ist, um einen Gatten von der Tugend seiner Frau zu überzeugen. Ja! Ich werde Helena sogar dazu bringen, selbst an ihre Tugend zu glauben. Und ich breche sofort auf, um jeden Überfall zu vermeiden. Sind wir erst auf dem Schiff, dann gelingt es uns vielleicht, den Krieg zu vereiteln.

Hektor Ist das die List des Ulysses oder seine Größe?

Ulysses Ich suche in diesem Augenblick das Schicksal zu überlisten und nicht Euch. Es ist mein erster Versuch und daher anerkennenswert. Hektor, ich spreche offen ... Wenn ich den Krieg wollte, dann würde ich nicht Helena von Euch fordern, sondern ein anderes Pfand, das Euch teurer ist ... Ich gehe. Aber ich kann mich des Gefühles nicht erwehren, daß er gar weit ist, der Weg, der von dieser Stelle bis zu meinem Schiffe führt.

Hektor Meine Wache geleitet Euch.

Ulysses Weit ist er wie die offizielle Rundfahrt der auf Besuch weilenden Monarchen, wenn das Attentat droht ... Wo halten sich die Verschwörer verborgen? Heil uns! Wenn es nicht im Himmel selbst ist ... Und er ist weit, der Weg von hier bis zu jener Ecke des Palastes ... und weit mein erster Schritt ... Wie soll ich ihn setzen, meinen ersten Schritt, inmitten all dieser Gefahren? ... Werde ich ausgleiten und mich töten? ... Wird an jener Ecke ein Gesims mich erschlagen? Alles Mauerwerk hier ist neu, und die Steine sitzen noch locker ... Mut ... Vorwärts! (Er macht den ersten Schritt.)

Hektor Dank, Ulysses!

Ulysses Der erste Schritt ist getan ... Wie viele bleiben ihrer noch?

Hektor Vierhundertsechzig.

Ulysses Zum zweiten! Ihr wißt, warum ich mich zu gehen entschließe, Hektor? ...

Hektor Ich weiß es. Aus Edelmut.

Ulysses Nicht ganz! ... Andromache hat den gleichen Augenaufschlag wie Penelope. (Ab.)

Vierzehnte Szene
Andromache, Kassandra, Hektor, später Ajax, dann Demokos, Abneos

Hektor Du warst zugegen, Andromache?

Andromache Halte mich. Ich kann nicht mehr!

Hektor Du hast zugehört?

Andromache Ja. Ich bin am Ende.

Hektor Du siehst, daß wir nicht verzweifeln müssen ...

Andromache Nicht an uns vielleicht — an der Welt, ja ... Dieser Mann ist furchtbar ... Das Elend der ganzen Welt ist über mir.

Hektor Noch eine Minute ... und Ulysses ist an Bord ... Er geht schnell. Man sieht von hier aus ihn und sein Gefolge. Jetzt ist er schon bei den Brunnen. Was hast du?

Andromache Ich habe nicht mehr die Kraft zu hören. Ich halte mir die Ohren zu. Ich nehme meine Hände nicht weg, ehe unser Schicksal entschieden ist ...

Hektor Hole Helena, Kassandra.

(Ajax kommt, vollständig betrunken. Er sieht Andromache auf der Bank sitzend. Steht hinter ihr.)

Kassandra Ulysses erwartet Euch an Bord, Ajax! Dort führt man Euch Helena zu.

Ajax Helena? Helena kann mir gestohlen werden. Die dort will ich in den Armen halten.

Kassandra Fort mit dir, Ajax! Das ist die Gattin des Hektor.

Ajax Die Gattin des Hektor! Bravo! Den Frauen meiner Freunde, meiner wahren Freunde, habe ich immer den Vorzug gegeben!

Kassandra Ulysses ist schon auf halbem Wege. Geht!

Ajax Nichts für ungut. Sie hält sich die Ohren zu. Ich kann ihr also alles sagen, da sie nicht hören wird. Wenn ich sie anfassen, sie küssen würde — dann freilich! Aber Worte, die man nicht hört! ... Nichts, was ungefährlicher wäre.

Kassandra Nichts könnte gefährlicher sein. Geht, Ajax!

Ajax (während Kassandra ihn daran zu hindern sucht, sich Andromache zu nähern) Glaubst du? Dann aber ... warum sie nicht anfassen? Sie umarmen? Sittsam natürlich! Immer sittsam die Frauen der wahren Freunde. Du, was ist das Keuscheste an deiner Frau, Hektor? Ist es der Hals? Das wäre für den Hals ... ganz herzig. Keusch ist auch das Ohr! ... Das wäre für das Ohr! Ich werde dir sagen, Hektor, was ich immer am keuschesten an der Frau gefunden habe ... (Zu Kassandra) Laßt mich, laßt mich ... Auch die Küsse hört sie nicht. Wie stark du aber bist. Ich komme! Ich komme! Lebt wohl. (Er geht.)

(Hektor, der seinen Speer gehoben hatte, läßt ihn unmerklich wieder sinken.)

Demokos (stürzt herbei) Feigling! Feigling! Du gibst Helena zurück. Trojaner! Zu den Waffen! Man verrät uns! Sammelt euch! ... Und eure Kriegshymne ist bereit! Hört sie!

Hektor Da! Für deine Kriegshymne! (Er stößt ihm von hinten den Speer in den Rücken.)

Demokos (stürzt zu Boden) Er hat mich getötet!

Hektor Kein Krieg in Troja, Andromache! (Er versucht Andromache die Hände zu lösen. Sie widerstrebt, die Augen auf Demokos gerichtet. Der Vorhang, der sich langsam zu senken begann, hebt sich allmählich wieder.)

Abneos Man hat Demokos ermordet! Wer hat Demokos ermordet?

Demokos Wer mich getötet hat? ... Ajax ... Ajax ... Tötet ihn!

Abneos Tötet den Ajax.

Hektor Er lügt! Ich bin es, der ihn niederstieß.

Demokos Nein, es ist Ajax ...

Abneos Ajax hat den Demokos ermordet! ... Faßt ihn! ... Züchtigt ihn!

Hektor Demokos! Gestehe, daß ich es war! Gesteh, oder du stirbst!

Demokos Nein, teurer Hektor! Mein einzig teurer Hektor! Es ist Ajax! Tötet den Ajax! (Er stirbt.)

Kassandra Er stirbt, wie er gelebt hat: krächzend.

Abneos Seht! ... Sie halten den Ajax! ... Ah! Sie haben ihn erschlagen!

Hektor (macht die Hände Andromaches frei) Krieg in Troja!

(Die Pforte des Krieges öffnet sich langsam. Man erblickt Helena, die Troilus küßt.)

Kassandra Der trojanische Dichter ist tot ... Der Dichter der Griechen hat das Wort.

Vorhang


Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druck- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert. Bei Varianten der Schreibweise wurde die häufigste verwendet.

Die Zeichensetzung wurde nur bei eindeutigen Druckfehlern geändert. Für dieses eBook wurde ein Cover erstellt, das nun gemeinfrei ist.

Für dieses eBook wurde ein Cover erstellt und ist gemeinfrei.

[Das Ende von Kein Krieg in Troja von Jean-Hippolyte Giraudoux; Trans. von Annette Kolb.]